»Die Blumen von gestern« von Chris Kraus

Sein oder Nichtsein

Man reibt sich verwundert die Augen. Filme über die Nazi-Zeit gibt es ja massenweise, aber so einen haben wir noch nicht gesehen. »Die Blumen von gestern« ist ein Film über den Holocaust und die Nachwirkungen und über die Versuche, das Entsetzliche zu verarbeiten. Und eine Farce über die eigenen Unzulänglichkeiten, die einem dabei im Wege stehen.

Denn selten bekommt man so viel Unzulänglichkeiten im Kino zu sehen. Das macht den Film äußerst vergnüglich, wenn man sich zu lachen traut. Denn das Thema, das verhandelt wird, ist nicht nur im Sinne der politischen Korrektheit heikel.
Ein Auschwitzkongress soll vorbereitet werden. Doch die Holocaust-Forscher, die damit betraut sind,  haben mit sich selbst genug zu tun. Der junge Deutsche Totila (!) Blumen (Lars Eidinger) ist als Nachfahr der Tätergeneration besonders bemüht, das Erbe des gerade verstorbenen Professors Norkus, eines von den Nazis Verfolgten, hochzuhalten. Unter allen Umständen will er verhindern, dass aus dem Kongress ein werbefinanzierter Medien-Event gemacht wird.
Totila fällt es schwer, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Argumente in einem Streit trägt er auch einmal handgreiflich aus, was sogar sein Vorgesetzter Balthasar Thomas (Jan Josef Liefers) zu spüren bekommt. Als Totila eine junge französische Praktikantin zur Seite gestellt wird, prallen zwei Welten aufeinander: die der Täterenkel und die der Opferenkel. Beide erweisen sich als schwer zu bewältigen. Zudem könnte Zazie Lindeau (Adèle Haenel) die älter, aber nicht erwachsen gewordene Göre aus Louis Malles Film sein, so sprunghaft, um nicht zu sagen: hysterisch ist sie. Zwischen den beiden Experten geht es fortan zu wie in einer Screwball Comedy. Sie überbieten sich im Wissen über den Holocaust, einem Wissen, das sich eben aus ihrer beider Familiengeschichten speist.
Der Film verspottet nicht die NS-Opfer, sondern die selbstgerechte, unsensible und dabei unangemessene Sehweise der Nachgeborenen. Die Idee von Regisseur und Drehbuchautor Chris Kraus bestand darin, etwas Wichtiges darzustellen, was nach seiner Meinung in den Filmen über den Nationalsozialismus fehlt: »das Unbewältigte im Überbewältigten nämlich, das in den Familien immer noch Fortlebende, das Weggelogene und das Selbstgerechte, das Vergangene, das im offiziellen Erinnern nicht vergeht, in der familiären Aufarbeitung aber vom Hof gepeitscht wurde. Diesem Phänomen, davon bin ich überzeugt, kann man nur respektlos begegnen.«
Kraus interessiert sich schon immer für exzentrische Figuren in herausfordernden Situationen. Diese Kombination hat ihn bei »Vier Minuten«, dem Drama um die undisziplinierte, aggressive junge Strafgefangene und die betagte Klavierlehrerin, die eine musikalische Begabung gefunden zu haben glaubt, neben positiven Rezensionen eine halbe Million Kinobesucher eingebracht. Ob er mit diesen »Blumen von gestern« eine ähnlich beachtliche Resonanz finden wird, bleibt abzuwarten.

Claus Wecker 
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DIE BLUMEN VON GESTERN
von Chris Kraus, D 2016, 124 Min.
mit Lars Eidinger, Adèle Haene, Hannah Herzsprung, Jan Josef Liefers
Drama
Start: 12.01.2017
LÄUFT IM: CINEMA

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