Freies Schauspiel Ensemble: »Unschuld«

FSE: Unschuld (Foto: Felix Holland)

Absolut nackt und Gott in der Tüte

Freies Schauspiel Ensemble FSE: mit »Unschuld« in die Saison

»Unschuld« ist ein seltsamer,  kontradiktorischer Titel für das Stück von Dea Loher, dessen Figuren so ziemlich das Gegenteil fühlen: Die afrikanischen Flüchtlinge Elisio und Fadoul lassen eine Frau ertrinken. Frau Habersatt lädt sich fremde Schicksale auf, Franz, Rosa und die unerträgliche Schwiegermutter leben aneinander vorbei, die blinde Stripperin Absolut will nicht ablassen von ihrem Job, eine ungeduldige Menge im Autostau beschimpft einen Selbstmörder und die große Philosophin entledigt sich wie ›en passant‹ ihres autistischen Ehegatten.
In 15 Minidramen werden die Schicksale eines Dutzends Menschen auf verschlungene Weise verknüpft und, ja, zum Teil erzählt, was eine Distanz zwischen Spieler und Rolle, aber auch Raum für Auge und Hirn des Zuschauers schafft: episches Theater at it‘s best. Brecht hätte seine Freude! Wie Filmtakes, mit Blackout und Übergangsmusik nach jeder Szene, legt Reinhard Hinzpeter seine Inszenierung an. Nach einem rasanten Intro mit allen Beteiligten entstehen wunderbare Bilder. Zum Beispiel, wenn der Blick auf die schwarze Lücke geht, in der die beiden spitz nach hinten zulaufenden blauen Wände münden, und dort – mit den Afrikanern – eine wie aus dem Nichts auftauchende weibliche Figur erspäht, die sich sorgfältig entkleidet und dann entschwindet – in die Fluten. Ein unwirklich wirkendes, schönes Bild.
Und so geht es weiter, mit sparsamsten Mitteln; ein Tisch, Stühle, ein schwarzes Tuch, ein Fernseher mit Redner ohne Ton, dazu eine ausgezeichnete Licht- (und Schatten-)Regie schaffen Wohnzimmer, Straße und Strand. Nur der »Blaue Planet«, die Bar, in der die blinde Absolut nackt tanzt, wird uns vorenthalten. (Bühne/Licht: Gerd Friedrich, Ralf Neumann und Mirjam Lüdecke).
Grandios bewältigen die fünf Schauspieler in fliegendem Wechsel den Parcours: Bettina Kaminski brilliert vor allem als notorisch übergriffige Frau Habersatt, die einem älteren Ehepaar vorgibt, die Mutter jenes Bruno zu sein, der ihre Tochter erstochen hat. Michaela Conrad nervt als zuckerkranke Frau Zucker und Kettenraucherin nach allen Regeln der Kunst. Naja Marie Domsel ist anrührend als vernachlässigte Rosa und blinde Absolut. Und wunderschön als die Frau, die ins Meer entschwindet – oder in ihre Zukunft. Ein absoluter Gewinn für das FSE sind die Neuzugänge Mario Linder und Jochen Döring: beide als afrikanische Flüchtlinge mit schwarzem Tape geXmarkt, Linder als nerdiger, gefühlskalter Arzt, dem ein Lover vom 13. Stock springt; Döring als ein Mann, dem im neuen Beruf des Bestatters die Toten näher sind als die Lebenden und der die Urnen derer, die ohne Angehörige gestorben sind, liebevoll zuhause stapelt,
Der Tod ist nah und Gott, so weiß Fadoul, in der Tüte, die er mit 200.000 Euro in gebrauchten 50ern fand. Ob er der blinden Absolut das Augenlicht doch noch verschafft, ob Frau Habersatt und Frau Zucker zusammenfinden, wir erfahren es nicht. Eine Trostlosigkeit, die auf wunderbare Weise glücklich macht im Titania.

Katrin Swoboda
Termine : 2., 3., 23. Oktober, 20 Uhr
www.freiesschauspiel.de

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