Max Annas und seine »Morduntersuchungskommission«

»Kriminalromane sind die Literatur der Demokratie. Der Kriminalroman und sein Detektiv sind nur in einer Welt möglich, die nicht der Allgewalt des Staates, der Gestapo oder des NKWD ausgeliefert ist. In einem Polizeistaat ist ein Sherlock Holmes selbst als literarische Figur undenkbar.«
Solche Gedanken versuchte der Widerstandskämpfer und Emigrant Karl Anders in den frühen 1950ern den deutschen Volksbibliothekaren nahe zu bringen. Leider ziemlich vergeblich. Raymond Chandlers Romane etwa waren für die Bibliothekshüter damals »moralisch bedenklich«. Karl Anders, zeitweise Geschäftsführer der »Frankfurter Rundschau«, dann Wahlkampfleiter von Willy Brandt, hatte aus seinem Exil in England die Liebe zum Kriminalroman mitgebracht, hatte im akademischen Umfeld von Oxford seine deutschen Dünkel vor dieser Literaturgattung abgelegt. Nach dem Vorbild seines Verlegerfreundes Victor Gollancz und der angelsächsischen Lesegewohnheiten sollte die sozusagen garantierte Abnahme »frischer« Kriminalliteratur durch die Volksbüchereien seinen linken Nest-Verlag finanzieren helfen.
Zwischen 1949 und 1959 brachte er – in zum Teil viele Jahre gültigen Übersetzungen – die Bücher von Raymond Chandler, Dashiell Hammett, Eric Ambler, Dorothy Sayers, Cornell Woolrich, James M. Cain oder Ed Lacy heraus – die berühmten Krähen-Bücher. Er war es, der dem Niveau des Genres in Deutschland zu internationaler Höhe verhalf. Er war es, der den Kriminalroman stets als urdemokratisches Medium verteidigte.
Karl Anders ist mir jetzt beim Lesen des Romans »Morduntersuchungskommission« von Max Annas wieder sehr lebendig geworden. Es ist eine der interessantesten Neuerscheinungen dieses Jahres. Ein sehr besonderes Buch. Schade, dass Karl Anders (1907 – 1997) es nicht mehr erleben kann, gerne hätte ich darüber mit ihm diskutiert.
Max Annas gehört seit seinem Debüt »Die Farm« zu den aufregendsten Kriminalautoren der Bundesrepublik. Drei Mal schon wurde er mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet. Er war Journalist und Redakteur, etwa bei der »StadtRevue« in Köln, hat als Autor Bücher über Politik und Kultur veröffentlicht und Filmfestivals und -reihen organisiert. An der Universität von Fort Hare in der Provinz Ostkap forschte er zum südafrikanischen Jazz. Er ist ein ebenso großer Musik- wie Filmkenner. Seine ersten vier Romane überraschten mit Tempo, Fokus und Setting, spielten je an einem Tag oder in einer Nacht. Max Annas schreibt so wie Anthony Mann Filme macht – von dem es gerade im Deutschen Filmmuseum eine Retrospektive gab, und zudem ein fulminantes Buch von Ines Bayer: geradlinig, schnell, konzentriert, zurückgenommen, schnörkellos, zupackend und absolut klar im Ausdruck. Kein Gramm Fett, kein Regenbogen, kein Schmalz, keine Schwächen. Seine Bücher: »Die Farm« (2014), »Die Mauer« (2016), »Illegal« 2017, »Finsterwalde« 2018. Und nun: »Morduntersuchungskommission«.
Max Annas geht dazu in die DDR. Oktober bis Dezember 1983. Seine Hauptfigur ist der Oberleutnant Otto Castorp von der MUK in Gera, Anfang 30, verheiratet, zwei Kinder, Affäre mit einer Buchhändlerin. Eine Obrigkeitsfigur als Zentralperspektive – ganz in der Tradition des DDR-Kriminalromans und des »Polizeirufs 110«. Jawoll, der war eine DDR-Erfindung, als Gegenentwurf zum »Tatort« seit 1971 im Deutschen Fernsehfunk (DFF) zu sehen und mit 153 Folgen zu DDR-Fernsehzeiten.
In manchen Buchbesprechungen ist jetzt davon die Rede, dass Kriminalliteratur von den DDR-Mächtigen nicht gern gesehen worden sei und dass es sie eigentlich kaum gab. Das Gegenteil ist richtig. Kriminalromane und Krimiserien im Fernsehen waren eine beliebte Gelegenheit der Volkserziehung, ein pädagogisches Programm mit sehr kleinen Fluchten. Der DDR-Literaturwissenschaftler Ernst Kaemmel bezeichnete 1962 den Kriminalroman als ein »Kind des Kapitalismus«, der nur »unter den Bedingungen des verfaulenden Imperialismus« entstehen könne. Krimis waren in der DDR eine Gelegenheit, gesellschaftliche Probleme und Missstände anzusprechen – und sie im Sinne des Systems zu behandeln und zu beantworten. Gesellschaftskritik im »Polizeiruf« geschah oft als Rede und Gegenrede: Der Kriminelle führte seinen gesellschaftswidrigen Standpunkt aus, begründete ihn manchmal gar, sogleich jedoch antwortete ihm ein als Sympathieträger aufgebauter systemtreuer Bürger, der den entgegengesetzten Standpunkt vertrat. Fachberater des Ministeriums des Inneren (MdI), dem auch die Deutsche Volkspolizei untergeordnet war, wachten schon während der Produktion darüber, dass die Inhalte auch in sprachlicher Hinsicht systemkonform blieben und dass die Kriminalbeamten gemäß dem offiziellen Wunschbild dargestellt wurden. Bis auf einige Ausnahmen in den Vor-Wende-Jahren sah man Polizisten weder rauchend noch Alkohol trinkend oder lässig angezogen.
Ein häufig vorkommendes Motiv auf Täterseite war der Alkoholmissbrauch, in der DDR echtes gesellschaftliches Problem, in den Staatsmedien aber meist nur verdeckt angesprochen. In Kriminalromanen und –filmen wurde Alkohol oft als Mitursache für die kriminelle Entwicklung dargestellt. Das Tatmotiv in den DDR-Krimis war oft privates Versagen oder Machtmissbrauch. In der beliebten DIE-Reihe (Delikte – Indizien – Ermittlungen) aus dem Verlag Das Neue Berlin lagen bis zur Wendezeit rund 130 Taschenbuchtitel vor. Nicht Mord und Totschlag standen dabei im Mittelpunkt sondern die Arbeit der Ermittler, die im Auftrag des Staates handeln und die Täter auf den richtigen moralischen Weg zurückführen.
Auch Oberleutnant Otto Castorp ist kein Trinker, kein Rebell, kein von abseitigen Eigenarten gepeinigter Sonderling. Er ist einfach Polizist. Max Annas sieht ihn als Serienfigur, der zweite Roman ist schon fertig. Das Verbrechen, das Castorp bei seinem ersten Auftritt zu lösen versucht, darf es im »Realsozialismus« gar nicht geben, und dessen gesellschaftlichen Umstände erst recht nicht: Ein Vertragsarbeiter aus Mozambik, einem sozialistischen Bruderland, wird grausam ermordet aufgefunden, es gibt Hinweise auf einen fremdenfeindlichen, rassistischen, ja neonazistischen Hintergrund. Aber im antifaschistischen Musterstaat darf so etwas keinesfalls existieren. Für so etwas gibt es – im Sinne von Karl Anders – keinen Detektiv.
Max Annas’ Roman spielt zeitlich wie räumlich da, wo der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) seinen Anfang nahm. Sein Fall hat ein reales Vorbild, der Roman ist dem 1986 ermordeten Manuel Diogo gewidmet. Das unaufgeregt genaue Buch ist ein wichtiger Baustein, die DDR auch als Kriminalroman zu erzählen. Immerhin ist sie uns näher als die Weimarer »Babylon« Republik. Und es gibt da tatsächlich noch viel zu erzählen.

Alf Mayer (Foto: Michele Corleone)
Max Annas: Morduntersuchungskommission. Rowohlt Buchverlag, Hamburg 2019. 352 Seiten, Hardcover, 20,– Euro.

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