Wilhelm Genazinos Roman »Außer uns spricht niemand über uns«

Schlimmer geht‘s immer

Genazino, Büchnerpreisträger und hauptamtlicher Nörgel-Virtuose, seit Jahrzehnten auch als Frankfurter Stadtstreicher bekannt, schreibt die Geschichte seiner traurigen, mehr oder weniger beschäftigungslosen, in vertrackte und müde Beziehungen verstrickten Helden mit unverminderter Energie und abgrundtiefer Trostlosigkeit auch in seinem neuen Roman weiter, schwarz und immer schwärzer. Man möchte das Buch in die Ecke pfeffern, wenn man die Geschichten dieser armseligen Würstchen an sich herankommen lässt. Man möchte vor Begeisterung hüpfen und noch auf dem Hauptfriedhof jodeln, wenn man diese grandiosen Formulierungen eines begnadeten Miesepeters liest.
»Mein Leben verlief nicht so, wie ich es mir einmal vorgestellt hatte.« Das ist die bittere Erkenntnis des Flaneurs und namenlosen Erzählers, dessen ganzes Bestreben eigentlich war »ein bedeutsames Leben zu führen«. Stattdessen hält sich der ehemalige Schauspieler mit Moderationen auf Modeschauen und als Rundfunksprecher nur mühsam über Wasser. Seine Freundin Carola, wesentlich jünger als er, arbeitet als Telefonistin in einer Spedition. Beide verbringen viel Zeit miteinander, obwohl sie getrennte Wohnungen haben. Doch »es zeichnete sich seit längerer Zeit ab, dass Carola und ich nicht wirklich zusammen passten«.  Er, der sich schon durch »Widerwillen gegen Hunde und Fahrräder und Rucksäcke… vielbeschäftigt vorkam« (auf so eine Formulierung kommt auch nicht jeder), muss erschrocken feststellen, dass seine Freundin am Frankfurter Marathon teilnimmt, und er entdeckt sogar auf ihrer bloßen Schulter ein Tattoo. Kurze Zeit später stellt er im Bett fest, dass sich das Tattoo sogar den ganzen Rücken hinunter schlängelt, was ihn völlig »überfordert«. Ständig fühlt er sich »überfordert« und oft dazu noch »gestört«. Schon dadurch, »dass der Bürgersteig zur Straße hin schräg abfiel« oder »junge Mädchen schon wie erwachsene Frauen lachten«. Ein Obdachloser, der in Mülltonnen nach etwas Brauchbarem sucht, erweckt in ihm die Angst, »dass ich eines Tages selbst den Griff in die Abfallkörbe nötig haben könnte«. Er ist jemand, der sich Gedanken über alles macht und am Leben leidet. An den Menschen, dem Straßenlärm, dem Baulärm, manchmal empfindet er schon das »normale Atmen« als schwierig. Carola redet nicht mit ihm »über ihre inneren Drangsale«, den Kinderwunsch, den sie zu haben scheint. Das einzige Mal zeigt er sich ihr gegenüber mitfühlend und fürsorglich, als sie in seiner Wohnung eine Fehlgeburt erleidet. Obwohl er nicht einmal weiß, ob das Kind von ihm ist, denn für Carola war Treue gleichbedeutend mit der »Selbstverödung von Hausfrauen«. Kurze Zeit später verlässt sie ihn, was er als Verrat empfindet. Sie hatte ihm doch versprochen, ihn, »falls nötig eines Tages sogar im Rollstuhl umherzufahren«. Carola daraufhin lapidar: »Wenn es soweit ist, rufst du mich an.« Durch den Verlust befindet er sich »in einem sich langsam fortfressenden Desaster«.  Er hat das Gefühl, er müsse jetzt »einen dauerhaft verharrenden Schmerz«  in sein Leben einbauen. Er bewegt sich gerne langsam durch die Straßen »des heruntergekommenen Viertels«, in dem er wohnt. Er findet, dass dort außergewöhnlich viele Frisöre leben, woraus er schließt: »Der Kleinbürger möchte in seiner Bedürftigkeit wenigstens vor sich selber einen passablen Eindruck machen. Es gibt die gut frisierte Beschädigung.« Er staunt über seine Gedanken, seine Befindlichkeit, seine Überempfindlichkeit, manchmal lobt er sich für einen gelungenen Satz. Dass Carola sich das Leben nimmt, wird am Ende eher beiläufig erwähnt. Als Grund vermutet er ihre Alkoholsucht, bei sich kann er keine Schuld erkennen, höchstens die, dass er ihren Eltern »nicht erklären konnte, warum sich ihre Tochter das Leben genommen hatte«. Seine einzige Konsequenz daraus: »Es zeichnete sich ab, dass ich Carola würde vergessen müssen, indem ich das tun würde, was ich bisher immer getan hatte: Ich würde in der Stadt umhergehen und ganz langsam, verteilt über die Zeit, Stück für Stück, Teile meines Lebens und meiner Erinnerung verlieren, bis sie in dem großen Container des Vergessens verschwunden waren und von niemandem mehr gesucht wurden, auch von mir nicht.« So denken zu können ist grausig. So schreiben zu können großartig.

Sigrid Lüdke-Haertel
Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns.
Roman. München: Hanser Verlag, 2016. 155 S., 18 Euro

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert