19. goEast vom 10. bis 16. April 2019 in Wiesbaden

Als 1989 der Eiserne Vorhang fiel, geriet Europa in eine unglaubliche Aufbruchstimmung. Der Kontinent war endlich vereint, alles würde gut werden. Ost- und Westeuropäer konnten sich ohne Visum begegnen und kennenlernen. Nicht zuletzt aus diesem erwartungsvollen Optimismus heraus entstand auch das Festival goEast.

Dreißig Jahre später fragt man sich angesichts von Filmen wie »Acid« (Kislota) und »Strip and War«, was aus den damaligen Hoffnungen im Osten Europas – und nicht nur dort – geworden ist. Um es gleich vorwegzunehmen: eine einzige Enttäuschung.
»Acid«, der Regieerstling des russischen Schauspielers Alexander Gorchilin, handelt von jungen Männern in den Zwanzigern, die ohne Perspektive in einer Großstadt irgendwo in Russland herumirrlichtern. Gleich zu Beginn lässt sich einer von ihnen, der nackte und unter Drogen stehende Vanya, in die Tiefe fallen. »Wenn du springen willst, spring«, ruft ihm Pete zu. Der wird später aus Langeweile (?) einen Schluck Säure trinken bzw. ausspucken. Er wird im weiteren Verlauf von Sascha gesucht. Ihr Problem sei, dass sie keine Probleme haben, sagt er, als beide zusammenkommen. Väter tauchen auf, die sich nicht um ihre Söhne kümmern. Ein Thema, das wir aus Dostojewski-Romanen kennen.
Kurios geht es in dem weißrussischen Dokudrama »Strip and War« von Andrej Kutsila zu. Ein Kriegsveteran lebt mit seinem Enkel, den er »wie in einen Sohn« großgezogen hat, in einer Wohnung zusammen. Der Enkelsohn, ein ausgebildeter Ingenieur, verdient sein Geld als Stripper und wird vom Opa, der mental noch in der Sowjetunion lebt, immer wieder gemaßregelt. Während der junge Mann im Ballettstudio trainiert, um sich abends vor begeistert kreischenden Damen ansehnlich auszuziehen, sucht der Großvater Kinder auf, aus denen heute noch sozialistische Pioniere gemacht werden. Zu ihnen predigt er vom Dienst am Vaterland und dem großen vaterländischen Sieg. Es gibt eine Theorie, dass das Sowjetsystem im Prinzip weiterbesteht. Dieser Film, in dem so viele vorbeifahrende Panzer auf den Straßen zu sehen sind wie in einem Kriegsfilm, könnte sie bestätigen.
Diese beiden und 15 weitere Filme sind im Wettbewerb des Festivals zu sehen, das dem mittel- und osteuropäischen Film und dessen Künstlern in Wiesbaden ein Forum bietet. Vorsitz der Jury übernimmt in diesem Jahr die vielfach ausgezeichnete mazedonische Regisseurin Teona Strugar Mitevska, von der auch der diesjährige Eröffnungsfilm »Gott existiert, ihr Name ist Petrunija« (Gospod postoi, imeto i‘ e Petrunija) stammt. Auf der Berlinale wurde Mitevskas Arbeit mit dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet.
Unter dem Titel »Bleibt alles anders? – Die wilden Neunziger« schaut auch goEast in Gesprächen und Filmen zurück. Was bedeutete der Fall des Eisernen Vorhangs für die vormals sozialistischen Länder Europas? Und wie schlug sich der Zusammenbruch eines ganzen politischen Systems und damit einhergehend die Etablierung einer neuen Ordnung in den Filmen der frühen 90er-Jahre nieder?
Die erstmals für alle Interessierten offene Masterclass hält Sergei Loznitsa. Der ukrainische Regisseur und Drehbuchautor wurde ab Mitte der 90er-Jahre mit Dokumentar- und Spielfilmen über die sowjetische Geschichte und Gegenwart bekannt, wovon wiederum sein neuer Dokumentarfilm »The Trial« (Process) handelt, der bei goEast gezeigt wird.
»In Memoriam: Jonas Mekas und Dušan Makavejev«: Das Festival nimmt Abschied von dem in Litauen geborenen Filmkünstler Jonas Mekas, der nach dem Krieg einige Zeit auch in Wiesbaden gelebt hat, und von Dušan Makavejev, der den jugoslawischen Nachkriegsfilm mit widerborstigen Filmen wie dem Wilhelm-Reich-Film (»W.R. – Mysterien des Organismus« (W.R. – Misterije organizma) geprägt hat. Eine Hommage ist zusätzlich dem polnischen Altmeister Krzysztof Zanussi gewidmet.
Ein Wettbewerb für Virtual Reality, »Open Frame Award«, ist vom 3. – 7.4. im Deutschen Filmmuseum und vom 11. – 16.4. im Museum Wiesbaden zu Gast. Dort kann auch zur gleichen Zeit die Ausstellung »Eastern Fairy Tales« mit osteuropäischen Alltagsfotografien besichtigt werden.
Festivalkinos sind in Wiesbaden die Caligari FilmBühne, das Murnau-Filmtheater und das Apollo Kinocenter, in Frankfurt das Kino im Deutschen Filmmuseum, das Kino Palatin in Mainz, das Programmkino Rex in Darmstadt und das Gießener Kinocenter. Das Festival Center befindet sich in den Räumen der Wiesbadener Casino-Gesellschaft.

Claus Wecker (Foto: »Strip and War«, © goEast)
www.filmfestival-goeast.de

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