»A E I O – Das schnelle Alphabet der Liebe« von Nicolette Krebitz

Anna hat gerade wütend eine Hörspielrolle hingeschmissen, als ihr vor der angesagten Paris-Bar in Berlin die Handtasche entrissen wird. Der junge Räuber wird verfolgt, gestellt und zur Herausgabe der Handtasche gezwungen. Diese gewalttätige Begegnung wird nicht das letzte Treffen der beiden sein. Vielmehr ist es der Beginn einer Liebesgeschichte, die geradewegs aus einem Truffaut-Film stammen könnte.

Die 60-jährige Anna (Sophie Rois) versteht sich als Schauspielerin, das Hörspiel war schon unter ihrer Würde. Doch ihre besten Tage sind vorbei, der Mund ist schmal und ein wenig verbittert geworden. Von einstiger Attraktivität kündet ein großes Foto im Flur ihrer repräsentativen Altbauwohnung. Seit dem Tod ihres Mannes lebt sie dort allein. Eine Etage tiefer wohnt Hauswirt Michel (Udo Kier). Er ist ihr väterlicher Freund, der sie nach allen Misserfolgen auffängt.
Weil sie Geld braucht, wird ihr ein junger Mann vermittelt, dessen schludrige Sprechweise für einen Bühnenauftritt verbessert werden soll. Sie staunt nicht schlecht, als sie in ihm den Räuber ihrer Handtasche wiedererkennt.
Der gutaussehende Adrian (Milan Herms) hat bisher nicht gerade Glück gehabt. Seine Eltern sind tot, wechselnde Pflegeeltern sind nicht mit ihm klar gekommen. Schwer erziehbar nannte man so einen Jungen. Und so war es auch bei vielen Kinohelden. Man könnte sagen: Die besten Geschichten im Kino erzählen von einst schwer erziehbaren Kindern.
Zwei Alleinstehende mit einem großen Altersunterschied, kleiner als bei Harold und Maude, auch etwas realistischer und direkter geschildert. Dabei ist nicht jede Wendung, die bei ihrer Annäherung genommen wird, gleichermaßen plausibel. So wird Annas Handtasche, als sie nach dem Raub von Adrian ausgehändigt wird, nicht nach dem Portemonnaie durchsucht, und auch später fragt ihn Anna nie danach. Ein derartige Frage würde natürlich den Zauber dieses Ineinander-Verliebens zerstören.
Und ein Paar soll ja aus Anna und Adrian werden. Eines, das wie einst Anna Karina und Jean-Paul Belmondo aus dem tristen Alltag an die Côte d’Azur flieht. Godards großer Wurf »Pierrot le fou«, der hierzulande den sinnfreien Titel »Elf Uhr nachts« trug, ist zweifellos die Blaupause für den zweiten Teil des Films. Doch diesmal fährt das Paar statt im Cabriolet im TGV – dem Zeitgeist entsprechend. An der sonnigen Mittelmeerküste schlagen sie sich mittellos durch, Adrian macht so ganz nebenbei ein Luxushotel unsicher. Schließlich landen beide nacheinander und getrennt voneinander in der örtlichen Polizeistation, und es wird klar, wie es zu dem Titel gekommen ist. Die Großbuchstaben stammen aus einer Gegenüberstellung, die schon zu Beginn gezeigt wurde.
Etwas Märchenhaftes hat der ganze Film. Im Kino muss man ja oft das Maß der Glaubwürdigkeit beiseite legen. In diesem Film fällt das leicht, weil Regisseurin Nicolette Krebitz das filmische Erzählen perfekt beherrscht. Im Vergleich zu den aktuellen Filmen erstaunt es schon, wie bewusst die Bilder von Kameramann Reinhold Vorschneider gewählt sind. Das bezieht sich nicht nur auf die filmischen Zitate berühmter Vorgänger (»Die Reifeprüfung«, »Die Braut trug schwarz« etc.), sondern auch auf unauffälligere Kamera-Einstellungen.
Vorschneider war schon bei »Wild« für die Kamera verantwortlich. Seit diesem Film gilt die ausgebildete Tänzerin und Schauspielerin Nicolette Krebitz als vielversprechende Filmemacherin. Weil die Geschichte einer Frau, die beschlossen hatte, mit einem Wolf zusammenzuleben, so ungewöhnlich war, ist die bewusste Kameraführung seinerzeit etwas untergegangen. Im Nachhinein ist deren Bedeutung für die Faszination, die von »Wild« ausgeht, aber nicht zu unterschätzen.
Allgemein gelten ungewöhnliche Beziehungen als Markenzeichen der Regisseurin. Ich finde aber ihr filmisches Gespür mindestens ebenso bemerkenswert und vor allem wichtig, wenn die Geschichte einmal weniger ansprechend ist.

Claus Wecker / Foto: © Komplizen Film/Reinhold Vorschneider

A E I O U – DAS SCHNELLE ALPHABET DER LIEBE
von Nicolette Krebitz, D/F 2022, 105 Min.
mit Sophie Rois, Udo Kier, Milan Herms, Nicolas Bridet
Drama / Start: 16.06.2022

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