Abschied von dem hr-Chefdirigenten Andrés Orozco-Estrada

Das nahezu beglückende Abschiedskonzert von Andrés Orozco-Estrada als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters – zu Live-Bedingungen! – war ein wirklicher Hoffnungsschimmer für die Wiederbelebung der Konzertszene der kommenden Saison. Das Orchester schien nach einer unbekannten Harmoniemusik des jungen Felix Mendessohn-Bartholdy beim nachfolgenden Violinkonzert des Argentiniers Alberto Ginastera mit der überrangenden Solistin Hilary Hahn vor Selbstbewusstsein geradezu zu bersten. Ein 1962 von Ruggiero Ricci und Leonard Bernstein uraufgeführtes Werk, das meines Wissens, hierzulande seitdem nie zu hören war. Das sollte sich ändern nach dieser fulminanten, mitreißenden Aufführung. Aus Reminiszenzen des »Teufelsgeigers« Niccolo Paganini schöpfend, beginnt das Konzert mit einer riesigen Kadenz für die Solo-Geige, in der bereits alle technisch denkbaren Schwierigkeiten der gesamten Komposition vorweggenommen werden. Sechs Sätze, »Studien« genannt, stützen sich beispielsweise jeweils auf Terzen,
Intervalle, Arpeggien, oder auf die 24 Vierteltöne einer Oktave und beschließen in einer Coda eine Art Rückkehr zum thematischen Material des ersten Satzes. 22 Solisten des Orchesters tauchen noch einmal in musikalische Lyrik ab, die Violin-Solistin umspielt die Themen wie entrückt. Im Perpetuum mobile des Schluss-Satzes blitzt gelegentlich Paganinis Motiv der berühmten Caprice Nr. 24 aus op 1 für Violine solo durch und endet im Wirbel (Perpetuum mobile eben). Standing ovations hier, wie auch danach in Pablo de Sarasates »Carmen-Fantasie«. Orozco-Estrada bedankte sich beim Publikum, dass es wieder leibhaftig dabei war und bei dem »einzigartigen Orchester, das über sieben Jahre auf seine besondere Weise inspiriert hat«. Orchester und Solistin wiederum ließen spüren, wie heiß sie auf die inspirierenden Live-Auftritte sind – und damit auf die neue Saison, die im September mit dem designierten Chef Alain Altinoglu fortgesetzt werden wird.
Der beim Frankfurter Publikum kein Unbekannter mehr ist, seit er beim letzten noch möglichen Europa Open Air 2019 unterhalb der EZB die Herzen der Zuhörer erobert hat. Die Video-Schalte zur Pressevorstellung des 46-jährigen französischen Maestro machte neugierig auf dessen Pläne, die zu Beginn vordergründig, so der Dirigent, vornehmlich von französischen Farben geprägt seien: Hector Berlioz natürlich, selten gespielte Werke des wenig bekannten Florent Schmitt, Ravel natürlich und Debussy.
Der Einstieg wird zum Festival »40 Jahre Alte Oper« mit vornehmlich Solisten des hr-Orchesters gestaltet, z.B. mit Schumanns Konzertstück für 4 Hörner und einem Violinkonzert von Wieniawski. Als Artist in Residence war der hoch gehandelte isländische Pianist Vikingur Òlafsson zugeschaltet, der ein Werk von Thomas Àdes und das Klavierkonzert des isländischen Komponisten Daniel Bjarnason im Gepäck haben wird. Es wird wieder das Format des »Jungen Konzerts« geben und der Austausch mittels »Educational Projects«, denn die Musikvermittlung an Kinder und Jugendliche hat schon seit Jahren obere Priorität, denn man nimmt den Bildungsauftrag als öffentlich-rechtliche Institution ernst. So auch die vieldiskutierte »Quote«: immerhin werden mit Ariane Matiakh, Marin Alsop und Karina Canellakis drei renommierte Damen am Pult des Orchesters ihre Anweisungen geben.

Weil noch immer nicht klar ist, wie viele Zuschauer in der Alten Oper bzw. im hr-Sendesaal besetzt werden dürfen, sind die definitiven Planungen für sinfonische Projekte noch in der Schwebe. Es ist beschlossen, zunächst keine Gesamtbroschüre der geplanten Veranstaltungen herauszugeben, sondern vierteljährliche Ankündigungen über die Medien bzw. die eigene Web-Seite. Es lohnt also, immer wieder darauf zu schauen.

Bernd Havenstein
(Foto: Andrés Orozco-Estrada – Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters
© hr/Werner Kmetitsch)
www.hr-sinfonieorchester.de (Dreimonats-Download, Termine und Karten)

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