Alf Mayer über Sybille Ruges Roman »Davenport 160 × 90«

Früher begann der Tag mit einer Schusswunde (Wolf Wondratschek), bei Sybille Ruge beginnt er mit einer Beerdigung.
Der ihres Vaters. Sie nennt ihn den Mann, dessen X-Chromosom sie besitzt. Sie hat weder einen Toten noch einen Koffer in Berlin, sie ist ein schnodder-schnäuziges Frankfurter Gewächs und schon mit diesem Debüt eine der besten deutschen Stimmen seit
Ulf Miehe und Marlene Dietrich.

Ihr Roman »Davenport 160 × 90« hat mich umgeworfen. Diese Frau kann schreiben. Und wie. Große Verneigung. Im Lauf dieses Textes – und vor allem auch bei Joachim Feldmann – mehr dazu.
Doch der Reihe nach. Das Buch beginnt so: »Meinen Vater lernte ich auf seiner Beerdigung kennen. Seine Auslöschung hatte bereits zu Lebzeiten stattgefunden. Die Gründe dafür sind mir unbekannt geblieben. Meine Mutter hatte sechs Wochen zuvor, kurz vor ihrem Tod, erstmals seinen Namen erwähnt. Nachdem die Asche meiner Mutter versenkt worden war, wollte ich das Familiending liquidieren. Mit 45 sollte man das in irgendeiner Weise geschafft haben, dachte ich.«
Nach nur 14 Zeilen stöckelt die Erzählerin über einen Friedhof im Spessart, Blasen an den Füßen. Sie trägt schwarz als Waise. Tanktop und Jogginghose, bewusst billig. »Touristen starrten mich an. Die Männer auf meinen Arsch, die Frauen auf den Chanel-Rucksack.«
Ein paar Zeilen weiter erfahren wir ihren Namen.
Slanski.
»Der Name, den ich aus einer Ehe mitgebracht hatte. Ein Intermezzo während des Studiums (…) Ich verzichte seit dieser Zeit auf alles, was nur im Entferntesten nach Vertrag aussieht. Ich treffe Vereinbarungen, bei denen ich jederzeit aussteigen kann. Den Namen habe ich behalten, weil er gut in den Blocksatz meiner Website passt.«
Die Beerdigungssache dauert ihr schnell zu lange. Sie habe ohnehin einen starken Drang, sich in keinem Szenario länger aufzuhalten. Und das schon immer. Nie Lust auf einen geregelten Job, auch auf keinen akademischen Grad: »Ich wollte auch nicht den intellektuellen Deppen spielen, der theoretische Grundlagen für Wachstum und Profit generiert.« Sie will ihre Ruhe. Findet, mit dem Geld muss man machen, was einem der liebe Gott geschenkt hat. Bei ihr ist es »das sichere Gefühl für den Schlussstrich«.
Sie denkt sich »als Einzeller in einer vibrierenden Heimatlosigkeit, wo nicht geredet wird. Die Zeit stürzt nach vorn. Ihre Maßeinheit heißt CASH. Die Folge ist Abstand. Abstand brauche ich wie nichts anderes auf dieser Welt.«
In ihrem Büro genießt sie Freiheit. Das muss man erst mal sagen können. Slanski (Vorname Sonja, wie wir erst später erfahren) zieht das durch. Ihr Büro und ihre Arbeit bewahren sie vor dem sogenannten Kollektiv. Sie hat Klienten, die ihr das Honorar über den Schreibtisch reichen, die ihr die Reisen bezahlen und die sie sitzenlassen kann, wenn sie nerven.
Über ihren Job redet sie grundsätzlich nicht. Sie legt einfach ihre Karte hin.
Vorne eine Telefonnummer, auf der Rückseite ein Wort.
FORDERUNGSMANAGEMENT.
Slanski betreibt ein Inkassobüro.
Aber nicht für Kleinbeträge. Sondern für die Banken-, Börsianer-, Anzugs- und Anwaltswelt am Finanzplatz Frankfurt. Als Romanfigur hat uns so jemand gefehlt. Solch ein Frankfurt-Buch hat uns gefehlt.
Sybille Ruge, Lyrikerin, Schauspielerin, Kostümbildnerin und Schöpferin edler Textilien mit Interesse an Raumfahrt, Soziologie und den Texten von Heiner Müller – so ihre Kurzbiografie – liefert uns diese Figur. Serviert sie uns mit dem coolsten Buchauftakt seit Eric Amblers »Der Brief mit der Warnung traf am Montag ein, die Bombe selber am Mittwoch. Es wurde eine betriebsame Woche«, damals 1981 in »Mit der Zeit – The Care of Time«.

Wer so selbstbewusst auftritt, muss auch liefern. Das ist der Grund, warum so viele konfektionierte Kriminalromane von vornherein lieber keine laute Tonart anschlagen, warum es erzählerisch bestenfalls plätschert. Im aktuellen Suhrkamp-Logbuch ist nachzulesen, warum auf dem Cover von »Davenport 160 × 90« der Begriff »Roman« steht und nicht »Kriminalroman«. Die Ultra-Kurzfassung davon: des Mehrwerts wegen. Und weil manche Begrifflichkeiten einfach zu kurz greifen oder nur eingeschränkte Erwartungen bedienen.

Natürlich ist der abgebrühte, hartgesottene Held, seit Humphrey Bogart hinterm Schreibtisch saß, ein Stereotyp. Ebenso wie das Klischee stammt dieser Fachausdruck aus der Drucktechnik und bezeichnet wiederholte, vorgefertigte Drucktexte. So etwas kreativ und subversiv gegen den Strich zu bürsten (wieder eine Begrifflichkeit aus dem Metier) erfordert neben viel Chuzpe Stilwissen und -sicherheit, innere Freiheit und den Hang zum Drahtseilakt.
Sybille Ruge schreibt dort oben. Female Noir. Ihr Buch ist ein höchst vergnüglicher, extrem unterhaltsamer und bewundernswert intelligenter Ritt auf der Rasierklinge, viele ihrer Sätze zum Schneiden scharf. Wenn ich ein Buch lese, das ich besprechen will, mache ich mir Notizen, selten mehr als insgesamt ein halbes oder dreiviertel Blatt, ich will ja den Überblick behalten. Bei Sybille Ruge habe ich das schnell aufgegeben und mir einen Bleistift geholt, „Stellen“ nur noch angestrichen, nicht mehr exzerpiert. Beispiele gefällig?

»Je größer die Schweinerein, desto mehr Charity.
Anwälte lernen im ersten Semester, wie man formal korrekt von ethischen Vorsätzen abrückt.
Sie wirkte wie eine, die keine Sekunde zögert, deinen Wagen zu rammen, wenn du ihr die Parklücke wegnimmst.
Die Schweiz ist am schönsten als Käse abgepackt im Supermarkt.
Für mich war sie ein zahlender Kunde, und für sie war ich wahrscheinlich auf derselben Stufe wie ein Getränkeautomat. Geld rein, Produkt raus.
Wir sahen uns an. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob das ein Lächeln war. Es glich eher einer Begrüßung aus dem Kampfsport.
»Sie übertreten die zulässige Geschwindigkeit beim Assoziieren.«
Der Medusa niemals ins Gesicht schlagen, wenn man sich nicht rechtzeitig vor dem geflügelten Pferd ducken kann.
»Zusammenarbeit ist was für eine Gruppentherapie.«
»In meiner Abteilung reicht das Spesenkontingent nur bis zum Schwarzwald.«
Rituale helfen angeblich. Aber ich weiß, dass Leichen nicht einzeln verbrannt werden.
Die Toten spielen keine Rolle mehr, aber den Mördern hängen wir uns an die Fersen, um uns selbst zu beweisen. (S. 252)
Eine Waffe schreibt ganz eigene Geschichte. Eine Verlängerung der Gedanken, aber klarer ausgedrückt. Eine Waffe nimmt ihre Fehler nicht zurück.«

Slanksi hat eine brasilianische Rossi 971, Blue Steel 4 Inch Barrel. Eine echt seriöse Wumme. Der beste Wodka, findet sie, kommt aus der Schweiz und heißt Xellent. Einmal ordert sie eine ganze Kiste davon. Sie geht Boxen in einer Baracke am Stadtrand, vertraut den Jungs von dort weit mehr als den Männern aus der Wirtschaft. Einen gleich im ersten Boxjahr ausgeschlagenen Zahn hat sie durch Gold ersetzen lassen. Von einem Autounfall (mit dem Ferrari ihrer Affäre) trägt sie unterm rechten Auge eine Narbe wie ein Mercedesstern. Im Verlauf der Geschichte wird ihre Visage noch mehr verschrammt. Da merkt sie: Die Leute sind ganze Gesichter gewohnt.
Und Sie als Leser dieser Besprechung wollen vermutlich ein wenig Plot. Also Schnelldurchlauf: Von einer undurchsichtigen Society-Lady, oszillierend zwischen Baby und Diva, erhält Slanski den Auftrag, eine kriminelle Anwaltskanzlei zu ruinieren. Das erledigt sie schnell und gründlich. Macht sich damit keine Freunde. Gleichzeitig taucht ihre jüngere Halbschwester Luna auf, die als Künstlerin und »Art Escort« herumflirrt – was der Autorin messerscharfe Beobachtungen aus der Vernissagen-Welt erlaubt. Und dann liegt Luna tot in Slankis Wohnung. Ermordet. Hätte vielleicht sogar ihr selbst gelten können.

In der Wohnung kann und mag Slanski nicht mehr bleiben. Sie zieht ins Motel One, bezahlt sechs Monate im voraus. Fortan hat ihr neuer Lebensraum die Größe einer ägyptischen Grabkammer, „die Luft im Flur war so unecht wie die Bilder an der Wand“. Sie hat ihr eigenes dabei, zuhause aus dem Rahmen geschnitten. Es heißt »South Seas II« und zeigt nur Himmel, »Grün (Pantone 14-0452) und helles Blau (Pantone 15-4427)«. Ihr Zimmer mag sie sofort, es sieht aus wie eine Urlaubsattrappe. Auf dem angedeuteten Schreibtisch liegt ein Granny Smith. »Diese Apfelsorte steht wohl für Design.«
Das Zimmer hüllt sie »wohltuend ein und führte automatisch zu guter Konzentration. Wenn man das Fenster aufmachte, hatte man das Gefühl, man stünde an den Niagarafällen. Der Verkehr donnerte vorbei, und man fühlte sich überflüssig und dennoch nicht mehr einsam. Ich fand es prima. Das war Niemandsland. Ich legte mich auf die antiallergischen Kissen, die sich wie geraspelte Autoreifen anfühlten.«
Dann macht sie sich auf die Suche nach dem Mörder.

Sybille Ruges Affinität für Heiner Müller (1929 – 1995) wurde hier bereits erwähnt. Der war einer der besten Dramatiker der DDR und Katastrophenliebhaber, er höhnte: »Die Leute verlangen von der Kunst immer Trost.« Der letzte Satz seiner »Hamletmaschine« war ein abgewandeltes Zitat der Mörder von Sharon Tate: »Wenn Elektra mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.« Es würde mich wirklich sehr interessieren, wie Heiner Müller über Sybille Ruges Roman urteilen würde.
Von dieser Autorin will ich mehr, will ich noch viel mehr lesen.

Alf Mayer

P.S. »Davenport 160 x 90« (alleine über den Titel könnte man einen eigenen Text schreiben) ist, und das sicher nicht zufällig, die Nummer 50 der von Thomas Wörtche herausgegebenen Kriminalroman-Reihe im Suhrkamp Verlag. Neben Merle Kröger (»Die Experten«), Johannes Groschupf und seinen Berlin-Romanen »Berlin Prepper«, »Berlin Heat« und bald »Hyänen« sowie dem im November 22 erscheinenden »Morden und Lügen« von Andre Pilz gehört Sybille Ruge zu der kaum Handvoll deutschsprachiger Autorinnen und Autoren in dieser Reihe. Das will etwas heißen. Gratulation also an sie wie an ihren Herausgeber.

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