Alt und doch frisch geblieben: das Debut der Jane Gardam

Vor vierundvierzig Jahren erschien die englische Ausgabe von »Mädchen auf dem Felsen«, das auch bald darauf verfilmt wurde. Trotz der großen Erfolge, u.a. mit der Roman-Trilogie um Old Filth (was übrigens heißt: »Failed in London, try Hongkong«) zwischen 2003 und 2016 auf Deutsch erschienen, mussten wir auf dieses Buch bis jetzt warten. Fast das gesamte Werk Gardams wurde übrigens von der deutschen Schriftstellerin Isabel Bogdan glänzend übersetzt.
Die Autorin, 1928 in North Yorkshire geboren, lebt auch heute noch auf dem Land, in East Kent. Mit dreiundvierzig Jahren (und drei Kindern) veröffentlichte sie ihr erstes Buch. Seit 2009 ist sie Officer of the Order of the British Empire. Mit diesen Hinweisen sollte sich bereits erahnen lassen, in welcher Welt, in welchem Milieu ihr Werk spielt. Man muss sie nicht mögen, diese Engländer, aber wenn man sie mag, dann wird man sie lieben.

»Weil jetzt das Baby da war, sollte Margaret, acht Jahre alt, besondere Aufmerksamkeit bekommen.« Also darf Margaret mit Lydia, dem 18-jährigen Hausmädchen, jeden Mittwoch mit der Eisenbahn an den Strand fahren oder dort im Wald spazieren gehen. Lydia ist lebenshungrig, raucht, setzt sich gerne über Regeln hinweg und passt so gar nicht in die Familie Marsh. »Lydia ist ein bunter Paradiesvogel in diesem kargen Haus.« Schon beim ersten Ausflug stößt Margaret auf ein Landhaus in einem Park, das sie besonders reizt. Das Haus spielte, wie sich später herausstellt, im Leben ihrer Mutter Elinor eine große Rolle. Sie ist einst bei diesen reichen Nachbarn quasi mit aufgewachsen.
Margarets Vater, Kenneth Marsh, ein Bankangestellter, ist ein überzeugter Anhänger der Sekte Primal Saints und lebt streng nach der Bibel. Elinor wendet sich immer mehr von ihrem frömmelnden Mann ab, bis eines Nachmittags im heißen Sommer 1936 es aus ihr herausbricht: »Ich hab es satt. Ich hab es so satt. Ich hab den Himmel satt und dich habe ich auch satt.« Tochter Margaret wird von ihrem Vater überhaupt nicht wahrgenommen. Wenn sie »ihre Arme um seine Taille schlug« nahm er keinerlei Notiz davon, »sondern sprach über ihren Kopf hinweg weiter«. Elinor hingegen, aus sehr ärmlichen Verhältnissen kommend, wurde in dem besagten Haus der reichen Familie Frayling mit den beiden Geschwistern Binkie und Charles gewissermaßen gemeinsam aufgezogen. Für sie war klar, Charles würde sie später heiraten. Aber Mrs. Frayling unterband diese ungleiche Beziehung, Charles gehorchte seiner Mutter und verließ sie. Doch Elinor, die bald darauf eine Vernunftehe mit diesem frommen Kenneth Marsh einging, vergaß Charles nie. Und eines Tages setzt sie sich über alles, was ihr bis dahin wichtig war, hinweg und steht bei Charles vor der Tür, wirft alle Bedenken über Bord und, konsequent, dann auch alle ihre Kleidung ab.
An diesem Tag schlägt das Schicksal richtig zu. Hier laufen die Fäden alle zusammen. Es wird ein ereignisreicher Nachmittag. Wenn schon, denn schon. (Dabei sollte man nicht vergessen, es ist ihr erster Roman.)
Magret klettert am Meer auf den Felsen in der Brandung herum. Eine Sturmflut kommt auf. Die Wellen schlagen hoch. Sie wird gerettet. Doch zwei der Helfer ertrinken. Einer ist ihr Vater.
Im letzten Kapitel, inzwischen sind zwölf Jahre vergangen, begegnen wir noch einmal Margaret. Sie ist eine stille 20 jährige Frau, die mit der Schuld leben muss. Ihre Mutter engagiert sich in der Gemeinde und auch Lydia, das Kindermädchen, kommt zurück. Sie ist immer noch der Paradiesvogel »mit den schwindelerregenden Absätzen, (…) die nicht gut mit den sandigen Klippen zurechtkamen«.
Gardam gelang es schon in diesem Debut, lebendige Figuren zu schaffen, die in Erinnerung bleiben. In diesen Menschen zeigen sich noch die Auswirkungen einer englischen Gesellschaft, die viele an den Klassenschranken scheitern lässt. Und an einem erstarrten, bornierten Glauben, der keine Konzessionen kennt und seinen Anhängern bereits das Leben auf Erden zur Hölle macht. Gardam gelingt es, auch solche Figuren verständnisvoll zu beschreiben.
Jane Gardam verfügt über einen bitterbösen Humor, aber auch über eine feine Ironie. Und, das kann man nicht oft genug betonen, über ein tiefes Verständnis für ihre Figuren.
Jane Gardam beschreibt in diesem Roman ein England, das spürbar noch aus dem neunzehnten kommt und ebenso spürbar noch bis ins einundzwanzigste Jahrhundert hineinreicht.

Sigrid Lüdke-Haertel / Foto: © Victoria Salmon

Jane Gardam: »Mädchen auf dem Felsen«. Roman.
Aus dem Englischen von Isabel Bogdan.
Hanser Berlin. 2022, 224 Seiten, 22 €

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