Alter Adel auf Abwegen

lit-mitford-coverJessica Mitfords Geschichte einer exzentrischen Familie

Über die Mitford-Sisters gibt es bergeweise Literatur. Sechs Mädchen aus einer der ältesten aristokratischen Familien Englands, die in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts von sich reden machten. Zwei von ihnen wurden berühmte Nazis. Unity, tatsächlich mit Hitler befreundet, versuchte sich zu erschießen, als Deutschland England den Krieg erklärte. Diana war erst mit dem Brauerei-Erben Guinness, dann mit dem Faschistenführer Mosley verheiratet. Nancy wurde eine berühmte Schriftstellerin (ihre Bücher auf deutsch im Verlag Graf erschienen) und Jessica, mit einem Neffen Churchills verheiratet, eine Kommunistin. Es war immer was los in dieser Familie.

Sieben Geschwister, sechs Mädchen, ein Junge, wachsen in einem riesigen Haus auf dem Land, in der Nähe von Oxford, auf. Sie gehören zum besten Landadel, und man versucht, sie zu »Keuschheit, Sparsamkeit, Tierliebe, Rücksicht auf Dienstboten und gesundem Menschenverstand« zu erziehen. Bei drei Mädchen, darunter auch Jessica, geht das gründlich schief. In ihrer Autobiographie der Kinder- und Jugendjahre beschreibt sie sarkastisch, boshaft, aber voller Selbstironie, wie sie in ziemlicher Freiheit aufwachsen und das
»Erwachsenenschockieren« anfangs aus reiner Langeweile betreiben. Jessicas drei Jahre ältere Schwester Unity bringt Schwung in das reaktionäre, abgeschiedene Elternhaus, indem sie sich schon als Teenager für den Faschismus begeistert. »Ich gehe nach Deutschland und lerne Hitler kennen«, während Jessica genau das Gegenteil will: »Ich laufe weg und werde Kommunistin«. Beide verwirklichen tatsächlich ihre pubertär-großspurigen Ankündigungen. Jessica brennt mit Esmond Romilly, einem Neffen Winston Churchills durch, Angehöriger einer der ältesten Familien Großbritanniens. Er ist ein Abenteurer, der sich gegen das eigene Milieu, gegen die traditionell Reichen und Mächtigen auflehnt. Beide gehen nach Spanien, er kämpft, zwanzigjährig, gegen die Faschisten, wird bald leicht verletzt. Das Paar kehrt deshalb nach London zurück, heiratet, lebt in ärmlichen Verhältnissen, klagt nie, arrangiert sich. Jessica muss z.B. lernen, dass man Treppen nicht von unten nach oben putzt und für Elektrizität zahlen muss. Kurz vor dem Krieg wandern sie nach New York aus. Die Kreise, in denen sie sich jetzt, mit reichlich Empfehlungsschreiben ausgestattet, bewegen, sind keine steifen Briten, sondern lockere, offenherzige Menschen. Aber auch nicht das Gelbe vom Ei.

Die Menschen in der Park Avenue sind »teilweise sehr radikal, engstirnig und rassistisch«. Mit klaren Ansichten: »Neger – potentielle Verbrecher. Arme Weiße , Italiener – schlimmer als Neger. Juden – reines Gift, die Demokratische Partei – Abschaum, Präsident Roosevelt – ein krimineller Verrückter, der anderswo keine Stelle bekommen hat.« Einmal gibt es zwischen beiden einen heftigen Streit. Jessica sieht mit Entsetzen, wie ein Hund grausam behandelt wird. »Wenn du einen solchen Zirkus wegen eines Hundes aufführst, dann hättest du lieber in England bleiben sollen, wo man Hunde füttert und die Menschen in den Slums verhungern lässt.« Das junge Paar streunt durch Amerika, ständig auf der Suche nach Jobs. In Miami legen die Menschen »eine Art schmieriger Jovialität an den Tag, die an die zuckrige deutsche Gemütlichkeit erinnerte – eine Fassade, hinter der ein stinkender Rassismus hockte.« Woher nimmt dieses Upper-Class-Mädchen den Mut, die Kraft, sich so durchzubeißen. Jessica Mitford selbst versucht eine Antwort: »Das Milieu unserer Kindheit, ausgestattet mit einer üppigen Ader von Verrücktheit (…) hatte in uns eine große Rücksichtslosigkeit entstehen lassen, eine Art Verlängerung kindlicher Gemeinheit. Wir stachelten einander nicht nur zu immer drastischeren Streichen und Provokationen  gegen die Klasse an, der wir weggelaufen waren, wir genossen es überhaupt, die ganze Welt aufs Kreuz zu legen. Tatsächlich war dies unser eigentliches Lebensgefühl.« Jessicas Mann meldet sich freiwillig zur Army und wird schon bald darauf, von deutschen Kampffliegern, über dem Ärmelkanal abgeschossen. Die junge Witwe bringt wenige Monate später ihr zweites Kind zur Welt. Und da ist das Buch bereits zu Ende. Eine eigentlich tragische, mehr noch komische, boshafte, brillant geschriebene Sittengeschichte eines Englands, das es so auch nicht mehr gibt.

Sigrid Lüdke-Haertel
Jessica Mitford: Hunnen und Rebellen.
Meine Familie und das 20. Jahrhundert
Berenberg Verlag, Berlin, 2013, 336 S., 25 €

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert