Ann Tylers Roman »Die Reisen des Mr. Leary« ist eine (Wieder-)Entdeckung

In Minneapolis wurde sie 1941 geboren. In North Carolina ist sie aufgewachsen. Sie lebt, seit Ewigkeiten schon, in Baltimore. Sie zählt zu den bedeutendsten und auch erfolgreichsten amerikanischen Erzählerinnen der letzten Jahrzehnte. Auch, weil sie vom Alltag der amerikanischen Mittelschicht erzählt, der Tragik, die sich an den Vorgärten ablesen lässt, dem Glück, das auf die Dauer dort versickert. Sie schreibt seit 1965. Ihre Geschichten wurden mehrfach verfilmt. Ihr Werk ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzer Preis.

Macon Leary, »ein hochgewachsener, blasser, grauäugiger Mann mit glattem, kurzgeschnittenem Blondhaar«, ist immer korrekt angezogen. Jeans mag er überhaupt nicht, schon gar nicht auf Reisen. Und Mr. Leary schreibt Reisebücher, allerdings für Leute, die geschäftlich unterwegs sind und eigentlich das Reisen hassen. Also gibt er in seinen besonderen Reiseführern auch Tipps, wie man sich, obwohl unterwegs, wie zu Hause fühlen kann. So erfährt der Geschäftsreisende beispielsweise, wo es in Tokio Sweet’n Low-Limonade gibt oder wo man in Amsterdam die besten Hamburger bekommen kann.
Alles geht seinen Gang. Besser gesagt: ging seinen Gang.
Wir lernen Macon und seine Frau Sarah kennen, als sie ihm nach 20 Jahren Ehe verkündet: »Macon, ich möchte mich scheiden lassen.« Sarah, die eher »impulsiv und sprunghaft« ist, Macon dagegen »methodisch und unerschütterlich«, haben ein schweres Jahr hinter sich. Ihr zwölfjähriger Sohn Ethan wurde während einer Klassenfahrt bei einem Überfall in einer Imbissstube erschossen. Sarah kann nicht mehr länger in dem Haus leben, in dem sie alles an ihren Sohn erinnert. Sie lässt auch die Katze und den schwer erziehbaren Hund Edward zurück. Da Macon jetzt alles selbst organisieren muss und um Zeit und Energie zu sparen, entwickelt er etliche außergewöhnliche Marotten. Er legt z.B. seine Wäsche auf den Boden der Dusche und trampelt, während er duscht, darauf herum. Oder er legt sein Geschirr ins Spülbecken, spritzt etwas Chlor ins Wasser, nimmt es nach zwei Tagen wieder heraus und spült es ab. Die Trennung stellt ihn auch vor das Problem, wohin mit Edward während seiner Reisen. Doch er hat Glück. In der Hundepension »Miau-Wau« lernt er Muriel kennen. Sie ist eine Hundetrainerin, noch jung und eine etwas schräge Type, die ganz versessen darauf ist, Edward Manieren beizubringen. Zu allem Übel bricht sich Macon noch ein Bein und muss zu seinen Geschwistern ziehen. Seine beiden Brüder Charles und Porter leben seit der Trennung von ihren Frauen, wieder zusammen mit ihrer Schwester Rose in dem Haus, das die Großeltern ihnen einst vererbten. Rose »erwerbslos unverheiratet«, wird von ihren drei Brüdern finanziell unterstützt. Die vier Leary-Geschwister, inzwischen zwischen vierzig und fünfzig, sind eine ganz besondere Spezies. Alle haben überhaupt keinen Orientierungssinn, sind aber Sicherheitsfanatiker. Sarah, die mit keinem der Learys mehr etwas zu tun haben will, formulierte das treffend: die »können keinen Vorhang zuziehen«, ohne das vorher gründlich auszudiskutieren.
In dieser Familie ist allerdings auch immer was los. Aberwitzige Situationen, von Anne Tyler grandios beschrieben und prächtig ausgeschmückt, am laufenden Band.
Trotzdem: es ist das alltägliche Leben, das sie beschreibt. Unser aller Leben. Wir erkennen uns wieder in diesen Geschichten, also in den Problemen, den Konflikten und den Hoffnungen, die bleiben.
Die Hundetrainerin Muriel, sozusagen Macons Rettungsanker, lebt mit ihrem achtjährigen unehelichen Sohn in ziemlich dürftigen Verhältnissen. Sie ist zwar etwas chaotisch, aber immer gut gelaunt, warmherzig und liebt Macon von Anfang an. Sie schafft es recht schnell, den steifen, konservativen Macon für sich zu gewinnen, sodass er bei ihr einzieht. Sie hat enormen Kampfgeist und durchschaut ihn schnell: »Erst schämst du dich, mit mir gesehen zu werden, und im nächsten Moment hältst du mich für das Beste, was dir je untergekommen ist.« Doch bald zieht er wieder aus. Sarah, seine Frau, will zu ihm zurückkehren. Und er folgt ihrem Wunsch.
Aber Muriel gibt nicht so schnell klein bei. Sie fragt ihn: »Traust du dich, mir zu sagen, du kannst einen Menschen einfach aufbrauchen und dann weiterziehen?«
Muriel lässt ihn spüren, »wie sie tief in seinem Innern eine Saite anschlug«. Aber, wie die ganze Geschichte ausgeht – selber lesen!

Sigrid Lüdke-Haertel / Foto: © Diana Walker
Anne Tyler: »Die Reisen des Mr. Leary«
Roman. Aus dem Englischen (UK) von Andrea Baumrucker.
Kein & Aber Pocket. Zürich – Berlin, 2022, 416 S., 16.€

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