Anne Tylers neuester Roman »Eine gemeinsame Sache«

Man könnte sie als die kleine Schwester von John Updike bezeichnen: auch sie schreibt Alltagsgeschichten aus der amerikanischen Mittelschicht.
Ann Tyler wurde in Minneapolis, Minnesota geboren, wuchs in North Carolina auf, studierte in New York (Columbia) und lebt nun schon seit Jahrzehnten in Baltimore. Seit fast sechzig Jahren veröffentlicht sie ihre Romane. Sie wurde, unter anderem, mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Ihr Roman »Der Sinn des Ganzen«, (Strandgut 3/2020) erzählt von den Schwierigkeiten einer asymmetrischen Beziehung, die am Ende ins Gleichgewicht findet. Ihr neuer Roman, ebenfalls erst dieses Jahr in den USA erschienen, holt wieder weiter aus.

Dreh- und Angelpunkt dieser vier Generationen umfassenden Familiengeschichte ist Mercy Garrett. Sie hat, zusammen mit ihrem Mann Robin, drei Kinder groß gezogen. Sie hat intensiv deren ersten Liebeskummer, die Probleme mit den Partnern, die Missverständnisse und Querelen der Geschwister untereinander miterlebt. Jetzt hat sie nur noch einem Wunsch, in einem eigenen Atelier zu malen. Und nicht nur das. Ganz allmählich richtet sie sich dort eine kleine Einzimmerwohnung ein, in der sie kochen, schlafen, ja auch leben kann. Zumindest anfangs geht sie immer noch nach Hause, macht Robin das Frühstück, wäscht die Wäsche. Als sie immer öfter auch nachts wegbleibt, fragt Robin: »Verlässt du mich?«. »Nein«, sagt sie, aber allen ist klar, dass sie jetzt ein eigenes Leben hat. Man redet aber nicht darüber, schon gar nicht mit den Kindern.
Doch Mercy verlässt ihren Mann, aber auf eine »sehr sanfte Art«. Jeder in dieser Familie ist mehr oder weniger mit sich beschäftigt. Da ist z. B. Lily, die zweite Tochter, inzwischen um die dreißig. Sie erwartet ein Kind, aber nicht von ihrem Mann, sondern einem verheirateten Immobilienhändler. Da ist David, der jüngste, der mit einer elf Jahre älteren Frau und deren kleinem Kind zusammen lebt. Er hat, wie zu seinen beiden älteren Schwestern, auch zu seinen Eltern kaum noch Kontakt. Schon bei ihrem einzigen jemals mit der gesamten Familie verbrachten Urlaub an einem kleinen See, dem Deep Creek Lake in Maryland, hätte »ein Passant niemals gedacht, dass sich die Garretts überhaupt kannten, so allein und weit voneinander entfernt wirkten sie«. Und doch blickte Mercy »liebevoll« auf die Zeit, in der sie eine Familie waren, zurück, sie wollte sie »zugleich um keinen Preis ein zweites Mal durchleben«. Sie spürt den Verschleiß – an allem.
Ein Kabinettstückchen an Dialogen ist das Treffen im Haus von Alice, der ältesten Tochter, an Ostern. Sie sind alle sehr nett und höflich miteinander, wählen ihre Worte genau, wollen niemanden verletzen und doch hat man den Eindruck, dass sie nicht wirklich am Leben der anderen interessiert sind. Robin hat sich in den Kopf gesetzt, den 50. Hochzeitstag ganz groß zu feiern. Er will alles alleine organisieren und für Mercy soll es eine große Überraschung werden. Die gesamte Familie reist an, es scheint am Ende ein gelungenes Fest zu sein. Nach ihrer Abreise stellt Mercy klar: »Du musst mir etwas versprechen (…) Keine Überraschungen mehr«.
Bei Anne Tyler steht viel zwischen den Zeilen: Sie ist eine genaue Beobachterin: Ihre Ironie geht oft ins Boshafte über.
Anne Tyler beschreibt ein ganz normales Leben über vier Generationen. Dabei springt sie gerne zwischen den Jahrzehnten hin und her. Das Buch endet mit der Zeit der Pandemie. Mercy und Robin sind unterdessen gestorben. David und seine Frau Greta sind selbst Großeltern geworden. Nach zwei Jahren der Pandemie, ohne soziale Kontakte, werden sie von ihrem Sohn Nicholas und dem Enkel Benny besucht. Als sie nach ein paar Tagen wieder abgereist sind, ist den Großeltern klar: «Genauso funktioniert es in einer Familie«, sagte Greta. »Man erweist sich gegenseitig kleine Gefälligkeiten – verbirgt die eine oder andere unangenehme Wahrheit, sieht über diese oder jene Selbsttäuschung hinweg. Kleine Freundlichkeiten. Und kleine Grausamkeiten.«
Anne Tyler ist zum Markenzeichen geworden. Wo Tyler draufsteht, da sind unspektakuläre, aber berührende, warmherzige und doch genau beobachtete, im Gelingen gescheiterte, aber eben auch im Scheitern gelungene Familiengeschichten drin. Der Verlag hat völlig recht, wenn er hinten auf das Buch schreibt: AnneTyler ist »eine Meisterin des subtilen Familienromans«.

Sigrid Lüdke-Haertel

Anne Tyler: »Eine gemeinsame Sache«. Roman.
Aus dem Englischen von
Michaela Grabinger. Verlag Kein & Aber, Zürich/Berlin 2022. 352 S., 26 €

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