Annie Ernaux‘ Erinnerungsbuch an ihre Mutter »Eine Frau«

Vor genau sechzig Jahren wurde mit der Verabschiedung des Godesberger Programms der SPD in der Bundesrepublik der Klassenkampf abgeblasen. Mit erheblichen Auswirkungen auch auf die Literatur. Bücher wie die »Rückkehr nach Reims« von Didier Eribon konnte es deshalb bei uns so nicht geben. Auch Erinnerungen, wie Annie Ernaux’ ebenso schlichte wie ergreifende Geschichte ihrer Mutter, wird man hierzulande vergeblich suchen und wohl bis zu Peter Handkes Mutterbuch »Wunschloses Unglück« zurückgehen müssen.

Eine junge Frau, nicht aus einfachen, wie wir sagen, sondern tatsächlich aus proletarischen Verhältnissen, ist von dem unbedingten Willen zum sozialen Aufstieg beseelt. Ihr Mann, Arbeiter ohne eigene Ambitionen, fügt sich auch in dieser Hinsicht seinem Schicksal. Die Frau übernimmt ein kleines Lebensmittelgeschäft mit angeschlossener Gaststätte, kann später beides kaufen und damit bewegt sich die Familie auf dem Weg zum Mittelstand. Die erste Tochter des Paares stirbt mit acht Jahren. Zwei Jahre später kommt Annie auf die Welt. Sie soll den Lohn ernten, den sich die Mutter verdient hat. Aber das hat seinen Preis.
Die Mutter konnte letztlich ihre Herkunft nicht abschütteln. Sie konnte aber ihrer Tochter den Weg zum sozialen Aufstieg ebnen. Annie Ernaux, französische Gymnasiallehrerin und später Schriftstellerin, ist geworden, was die Mutter für sie sehnlichst erhoffte und hat sich dabei, notgedrungen, ihrer Mutter entfremdet, was beide schmerzhaft spüren und doch nicht verhindern können. Die Tochter weiß, dass ihre Mutter die einzige Frau in ihren Leben bleiben wird, die ihr »ernsthaft etwas bedeutet hat«.
1906 wurde die Mutter in einem kleinen Ort in der Normandie geboren. Sie wächst mit fünf Geschwistern in einem ärmlichen Arbeitermilieu auf. Alle Kinder schlafen in einem Zimmer, mit ihrer Schwester teilt sie sich ein Bett. Armut, Not, Hunger prägen ihr Leben. Mit zwölf verlässt sie die Schule und beginnt in einer Seilerei zu arbeiten. Aber sie hat einen Traum: ein eigener Lebensmittelladen. Sie hatte »die größte Wut und den größten Stolz, sie blickte mit rebellischer Klarheit auf ihre niedrige gesellschaftliche Stellung«. Die Männer ließen sich in der Kneipe volllaufen, die Frauen tranken zu Hause. Doch sie hatte den Willen zum »Aufstieg um jeden Preis«. Der große Wunsch der Mutter war es, ihrer Tochter »alles zu geben, was sie selbst nicht gehabt hatte«. Dabei mischen sich »überschwängliche Liebe« und ständige »Vorwürfe«, was die Tochter aus der schwierigen Lebensgeschichte ihrer Mutter zu verstehen sucht. Hinzu kommt, dass die Mutter in ihrer sozialen Position auch überfordert ist: Sie hat zwei Gesichter, »eins für die Kundschaft, eins für uns«. Für die Kunden ist das Lächeln, das rituelle Fragen nach Kindern, Gesundheit und Garten. Für die Familie bleibt oft nur Ungeduld und Erschöpfung. Der Vater, ohne jedes Bedürfnis das Milieu zu wechseln, lacht über die »geschwollene Sprache seiner Frau«.
Je älter Annie wird, desto mehr versteht sie ihre Mutter und umso mehr leidet sie unter ihr. Aber ihr ist stets bewusst, was sie ihrer Mutter zu verdanken hat. Nachdem sie dann selbst verheiratet ist, Kinder hat, ihre Mutter, Witwe und alt geworden, ihr Geschäft aufgeben muss, nimmt sie sie zu sich. Das konnte aber nicht gut gehen. Denn die Mutter hatte, sozial aufgestiegen, ihre alte Klasse verlassen können, war aber nie wirklich ›oben‹ angekommen.
Nach dem Tod ihrer Mutter wird Annie klar, dass die letzte Verbindung zu der Welt, aus der sie stammte, verloren gegangen ist. Ein faszinierend, ergreifendes Buch, nicht nur für Töchter.

Sigrid Lüdke-Haertel
Annie Ernaux: Eine Frau.
Aus dem Französischen von Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 88 S.

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