Die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat kann übermächtig werden, wenn sie sich in vierzig Jahren aufgestaut hat. Selbst wenn die Rückkehr mit Gefahren verbunden ist, wenn sie nach Neapel ins Machtzentrum der Camorra führt. Nach einem Roman von Emanno Rea hat der in Neapel geborene Regisseur Mario Martone eine ungewöhnliche Liebeserklärung an seine Heimatstadt vorgelegt.
Pierfrancesco Favino, der 2019 in »Il traditore« als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra aufgetreten ist, hat die Hauptrolle übernommen. Wie in Marco Bellocchios Film über Sizilien gelingt es Favino auch hier, eine Mischung aus Entschlossenheit und Nachdenklichkeit auszudrücken. Sein introvertierter Felice Lasco kommt nach Neapel, um die alt gewordene Mutter (Aurora Quattrocchi) zu besuchen. Beeindruckt von dem Treiben in der Stadt, wandert er tagsüber durch die Straßen, die nachts von jungen Männern auf ihren Mopeds und Motorrädern unsicher gemacht werden. Eine bedrohliche Stimmung herrscht dann in den spärlich beleuchteten Gassen.
Bemerkenswert ist auch, wie konsequent die Kamera von Paolo Carnera jedes Ansichtskartenbild vermeidet und trotzdem ein faszinierenden Eindruck von Neapel vermittelt. Sie konzentriert sich mit wenigen Ausnahmen auf Felice – zunächst wie er das Haus aufsucht, wo er mit seiner Mutter gewohnt hat.
Deren Freude ist groß, als der verlorene, obendrein einzige Sohn vor der Tür steht. Ihre kleine, dunkle Wohnung hat sie auf Veranlassung von Felices Jugendfreund Oreste Spasiano (Tommaso Ragno) im Tausch gegen die alte, geräumige und hellere im Obergeschoss bekommen. Oreste ist mittlerweile ein gefürchteter Camorra-Boss geworden. Aber welch ein Gegensatz zu den früheren Bossen, die in Anzügen herumliefen und mit mondänen Damen verheiratet waren! Dagegen ist Oreste ein einsamer Wolf in Trainingsklamotten.
Vor vierzig Jahren waren er und Felice beste Freunde. In Neapels berüchtigtem Stadtteil Sanità haben sie sich mit kleineren und größeren Gesetzesbrüchen durchgeschlagen. Bei einem Einbruch blieb ein Toter zurück. Oreste war der Täter, aber Felice erschrak dermaßen, dass er das Angebot seines Onkels auf eine berufliche Karriere im Libanon annahm und Italien verließ. Jetzt lebt er, mit einer Ägypterin verheiratet, als Unternehmer in Kairo und ist zum Islam konvertiert.
Dass er sein geordenetes Zuhause verlässt, um seine Mutter noch einmal lebend anzutreffen und sich um sie zu kümmern, ist für jeden verständlich. Dass er aber mit dem gefährlichen Oreste ein klärendes Gespräch sucht, ist weniger zu verstehen.
Raffaele (Nello Mascia), der alte Bekannte der Familie, ein Gentleman, der sich von der Camorra so weit wie möglich fernhält, rät Felice eindringlich, nach dem Tod der Mutter Neapel zu verlassen.
Don Luigi (Francesco Di Leva), der mutige junge Priester, versucht möglichst viele junge Menschen davor zu bewahren, sich den »Kindersoldaten« anzuschließen, die bereits 2019 im Berlinale-Film »Paranza – Der Clan der Kinder« (La paranza dei bambini) das Kinopublikum schockiert haben. Er findet im Zeitungsarchiv heraus, dass der damalige Mordfall nicht aufgeklärt wurde, was den weiteren Aufenthalt für Felice umso gefährlicher macht. Aber auch er kann Felice nicht davon abbringen, den sich versteckt haltenden Oreste zu suchen, und hilft ihm am Ende sogar dabei. Doch als es schließlich zu einem Treffen unter hohen Sicherheitsvorkehrungen kommt, besteht Felice auf seinem Recht, in Neapel zu leben. Beide können sich nicht einigen, und Oreste wirft den ehemaligen Freund hinaus.
Gespannt verfolgt man, wie sich der Konflikt auflösen wird. Die Beschäftigung mit den kriminellen Banden in den verschiedenen Regionen Süditaliens bringt immer wieder interessante Filme hervor. »Nostalgia«, diese ruhige, oft beängstigende Milieuschilderung gehört zu den Filmen, die man nicht so schnell vergisst.