Bilderstarke Prosa – »Die andere Mrs. Walker« von Mary Paulson-Ellis

Allan Massie, selbst erfolgreicher Autor historischer Romane, fühlte sich in seiner Rezension für den »Scotsman« an Wilkie Collins erinnert. Tatsächlich erinnert die Familiengeschichte im Zentrum von Mary Paulson-Ellis’ Debüt »Die andere Mrs. Walker« an viktorianische Spannungsromane. Der Vater verschwindet in Amerika und die Mutter in einer Nervenklinik, während die Kinder unter die Fuchtel einer gewieften Hebamme geraten, die illegale Abtreibungen vornimmt und gemeinsam mit einem zwielichtigen Partner ein florierendes Erpressungsgeschäft betreibt. Und das ist nur ein Teil der Handlung, die sich von 1929 bis 2011 erstreckt und fast nichts auslässt, was unterprivilegierten Frauen und Mädchen im 20. Jahrhundert widerfahren konnte. Allerdings folgt die Autorin nicht den Erzählmustern des klassischen Realismus, sondern gestaltet die Lektüre als Kombinationsaufgabe.
Weihnachten 2010 kehrt die 47-jährige Margaret Penny notgedrungen nach Edinburgh zurück. In London, wo sie dreißig Jahre gelebt und gearbeitet hat, hinterlässt sie verbrannte Erde. Mittellos findet sie Unterschlupf bei ihrer Mutter Barbara, die über das Wiedersehen alles andere als erfreut scheint. Als sich die Chance ergibt, durch die Ermittlung von Anverwandten mittellos Verstorbener ein bisschen Geld zu verdienen, zögert sie nicht lange. Ihr erster Fall ist eine Mrs. Walker, von der nicht einmal der Vorname und das Geburtsdatum bekannt sind. Aber Margaret Penny ist hartnäckig und einfallsreich. Allmählich fügt sich Puzzlestein an Puzzlestein, und wir ahnen schon, dass hier in eigener Sache recherchiert wird. Denn lesend sind wir der Ermittlerin immer einen Schritt voraus, versorgt uns die Autorin doch mit datierten Szenen aus der Familiengeschichte der Walkers, deren Drastik sich nicht immer auf Anhieb erschließt. Paulson-Ellis schreibt eine symbolisch aufgeladene, stark rhythmisierte und bilderstarke Prosa, die von Kathrin Bielfeldt kongenial ins Deutsche übertragen wurde. Nicht selten liest man eine Passage mehrmals, um die Ungeheuerlichkeit ihres Inhalts zu begreifen. Da geht es uns nicht anders als Margaret Penny, dieser ungewöhnliche Detektivfigur, deren Stärke und Willenskraft bei der Erforschung der eigenen Familiengeschichte noch lange im Gedächtnis bleiben.

Joachim Feldmann

Mary Paulson-Ellis: Die andere Mrs. Walker. Deutsch von Kathrin Bielfeldt. (The Other Mrs. Walker, 2016). Ariadne, Hamburg, 2022. 448 Seiten, 22 €.

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