Das Freie Schauspiel Ensemble zeigt Davide Enias Lampedusa-Monolog »Finsternis«

Auf dem frontalen Screen der Parkettbühne Titania sehen wir eine weiße Stuckdecke und durch das Fenster darunter ein erleuchtetes Zimmer im Haus gegenüber. Der Mittdreißiger, der aus diesem Raum zu uns spricht, scheint sich zuhause in irgendeiner Stadt zu befinden, die auch Frankfurt sein könnte. Eine Imagination, denn real sitzt er vor uns im Titania in Bockenheim und spricht vor einer seitlichen Leinwand mit besagter Aussicht in die Webcam. Davide Enias Theatermonolog »Finsternis« vermittelt uns Erfahrungen des Autors, die unsere eigenen sein könnten, wenn wir nur wollten.
Er solle doch mal was über die Flüchtlinge schreiben, hatte dem sizilianischen Schriftsteller ein befreundeter deutscher Kollege (Albert Ostermeier) vorgeschlagen und ihm so die Tür nach Lampedusa aufgestoßen, einem Ferienziel seiner Jugend. Ergebnis seiner mehrere Besuche umfassenden Recherche: Sein Buch »Schiffbruch vor Lampedusa« (2019), dessen Inhalt er in einem zweiten Schritt für eine Tournee, die er selbst – Schauspieler ist Enia nämlich auch –– bestritt, in jene monologische Form goss, die der Regisseur Reinhard Hinzpeter jetzt für das Freie Schauspiel Ensemble mit Moritz Buch zur Premiere brachte. Eindrucksvoll, dies schon mal vorweg: Der Schauspieler macht das so glaubwürdig und bewegend, dass es Tränen gibt im Publikum. Nach knapp 70 Minuten wird er mit lange anhaltendem Beifall gefeiert.
Ein manueller Espressokocher, der wie von Manufactum aussieht, steht auf dem Abstelltisch am Bühnenrand. Es sieht nach Nacht aus und scheint noch recht warm draußen. Moritz Buch alias Davide trägt das weiße Slim Hemd lose über der blauen Leinenhose und kommt barfuß daher. Er stiert auf den Monitor des Laptops, räuspert sich, schaltet ein Recherche-Audio mit der Stimme eines Rettungstauchers ein: »Im Meer wird gestorben, wenn du einen Fehler machst, bist du tot«, leitet dieser seinen Bericht über die Bergung von Ertrinkenden ein. Buch schaltet wieder ab, röhrt, stöhnt, um sich später Wort um Wort die Sprache aus den Rippen zu pressen, für das, was er augenscheinlich loswerden muss.
Buchs Davide lässt uns im Dialog mit dem Laptop am persönlichen Erleben der sogenannten Anlandungen teilhaben, und an dem, was für engagierte Freunde, Einwohner, Rettungsdienst-Mitarbeiter, die alle auf der Insel wohnen, Alltag ist. Er schildert Filme der Küstenwache und zitiert aus ärztlichen Befunden – über dehydrierte Menschen, über Spuren brutalster Gewalt gegen die vielfach schwanger ankommenden Frauen in lybischen Lagern, aber auch über die Opfer der Kutterkatastrophe vom 3. Oktober 2013. Und er unterstreicht mit der unglaublichen Geschichte von Besmet, der zu den fünf Überlebenden einer 80-köpfigen Flucht zählt und nun auf Lampedusa jährlich den Geburtstag seines zweiten Lebens feiert, dass hinter den bloßen Zahlen über Bootsflüchtlinge in den Zeitungsmeldungen konkrete Menschen und ihre Leben stehen. Besser: Er macht es uns bewusst. Nichts, was wir nicht wissen und wissen könnten, wenn wir nur wollten.
Völlig unmöglich, nicht berührt zu sein. Auch durch die, nennen wir es, ehrliche Sprache des Autors, der das verkraften will und wie betäubt über Stunden Orangen einmacht, bis ihn die Freundin wachrüttelt. Schwere Kost – und doch kein Gefühlssturz von einem Entsetzen in das nächste. Nicht nur seine Beziehung, seine ganze Familie spannt Enia in seine Geschichte ein, die das Geschehen auf Lampedusa mit der ganz persönlichen Dramaturgie einer Annäherung an seinen verstockten kauzigen Vater verknüpft und – hier am Rande, im Buch viel stärker – mit dem Sterben dessen krebskranken Bruders, seinem lebenslustigen Onkel Enzo. Was für ein seltsamer, aber auch wirksamer Kontrast zum Überlebenskampf der Flüchtlinge ist dieses Familienglück! Weil der Tod gegenwärtig ist in diesem Stück, bringt er uns die Lebenden und das Leben mit all seinen Nickligkeiten näher. Tatsächlich lacht und schmunzelt es hörbar immer wieder im Publikum, wenn sein Vater sich in der Kunst des männlichen Schweigens als vero italiano beweist.
Es braucht keine Bühne, angesichts des Elends der Welt Rotz und Wasser zu heulen, in Wut zu geraten oder auch in Depression zu fallen. Genau das aber weiß Enia, der nicht nur jede bildliche Plakatierung, sondern auch jede Form politischer Agitation mit seinem Text untersagt, zu verhindern: mit seiner oft ins Poetische reichenden Sprache und seiner dramaturgischen Komposition. Der Monolog endet mit der Geschichte einer phönizischen Prinzessin, die auf dem Rücken eines Stieres das Mittelmeer durchpflügt und Europa heißt. Keine Anklage nirgendwo, keine Beschwerde, nur ein eindringlicher Appell gegen das Abstumpfen und Vergessen. Glänzend umgesetzt im Titania.

Winnie Geipert / Foto: © Felix Holland

Termine: 14., 15., 21., 22. Oktober, jeweils 20 Uhr
www.freiesschauspiel.de

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