Das Unsagbare – »Was Nina wusste« von David Grossman

Dass der Präsident Ex-Jugoslawiens Josip Broz Tito im Jahr 1948 ein Konzentrationslager auf der Adria-Insel Goli Otok eingerichtet hatte, blieb den Blicken der Weltöffentlichkeit weitgehend verborgen. Bis eine Frau ihr Schweigen für den jugoslawisch-jüdischen Dichter Danilo Kiš brach und später für die israelischen Filmemacher Macabit Abramazon und Avner Fainguerlent, die im Jahr 2013 einen vierteiligen Film mit ihr drehten, der bei YouTube eingestellt wurde: Eva Panic Nahir. Ihr Name ist heute untrennbar mit den grauenhaften Vorgängen im Nachkriegs-Jugoslawien verbunden, sie war eine Symbolfigur für den Widerstand und bis zu ihrem Tod im Jahr 2015 mit ihren 95 zerbrechlichen Jahren eine der kostbarsten Zeuginnen dieser Zeit.

Eva Panic Nahir war ein wunderhübscher zierlicher Lockenkopf, hineingeboren in eine wohlhabende jüdische Familie in Thakovec, als sie auf einem Ball den Serben Rade kennen lernte: eine Liaison, die für Aufsehen sorgte, denn sie war nicht so ganz standesgemäß. Ihr Vater Bele war Textilhändler, die Mutter Emma Buchhalterin in der eigenen Firma. Mit den Kindern gemeinsam besuchte man im Sommer Venedig, im Winter die Oper und das Theater in Wien oder Budapest, unterhielt einen großbürgerlichen Haushalt, und die jungen Mädchen wurden für Bälle ausstaffiert, den Heiratspodien der damaligen Zeit. Evas Blick allerdings fiel auf Rade, den armen Bauernsohn mit seiner analphabetischen Familie. Damit war ihre Liebe besiegelt, eine ganz unvergleichliche Liebe, die – so erzählte es Eva Panic Nahir, nicht nur Liebe war, sondern Gleichklang der Seelen, die bedingungslose Einsicht in den politischen Kampf und in die Zuversicht: Eva und Rade schlossen sich der Partisanenbewegung an, retteten 1.500 Juden vor den Gaskammern – und doch: ihre eigenen Eltern konnte Eva vor Auschwitz nicht retten.
Eva Panic Nahir lebte von 1966 bis zu ihrem Tod in dem Kibbuz Shaar Haamakim im Norden Israels. Und der erste Eindruck ist, wenn man die Filmaufnahmen auf You Tube sieht: diese winzige Frau ist aus Stein. Das Leben hat sie buchstäblich glatt geschliffen, so wie sie im Stechschritt jeden Morgen den Swimming Pool des Kibbuz umschreitet, wie sie ihre Bahnen im Wasser zieht, unbeugsam, ohne Hast, ohne Zögern. Es hat sie mit einer Außenhaut versehen, die nichts und niemand durchdringen kann. Und dann, wenn man sie sieht: die Anmutung von Schönheit und Gepflegtheit, ihr Nagellack, der Lippenstift, der unauffällige Schmuck, die hübsche helle Kleidung. Und irgendetwas ist in mir aufgebrochen, als ich die Interviews betrachtete. Vermutlich die Einsicht, dass sich hier jemand allen (Be)-Wertungen entzieht, dass diese Eva so ganz einzigartig ist in ihrem unglaublichen Leid und ihrer unglaublichen Härte, dass niemand das nachvollziehen kann und über sie urteilen darf, und ja, dass eben der Mensch unter schwersten Traumata seine eigenen Lebensregeln aufstellt, über die niemand zu befinden hat.
Denn ihr Leben ist buchstäblich unvorstellbar – so wie das Leben von vielen Juden unvorstellbar war. Es ist nicht nur die Grausamkeit zu erfahren, dass die eigenen Eltern in Auschwitz umkamen, dass ihr geliebter, so glutvoll verehrter Mann im Gefängnis Selbstmord beging, sondern die unglaubliche Grausamkeit, dass sie selbst vor die Wahl gestellt wurde, entweder ihren Mann nach seinem Tod als stalinistischen Saboteur zu verunglimpfen und freizukommen, oder ihn nicht zu verraten und dafür ins Konzentrationslager zu gehen. Der Preis: ihre sechs Jahre alte Tochter. Sie entschied sich für das Lager und gegen ihre Tochter. Sie entschied sich für den Tod und gegen das Leben, wenn man das mal pathetisch formulieren will, aber es stimmt ja. Der Preis waren fast zwei Jahre lang Folter und Demütigungen, die Ungewissheit über das Schicksal ihres kleinen Mädchens.
Nein, das kann sich jetzt keiner vorstellen. Und so hören wir lieber stumm zu, was Eva zu sagen hat, und so blättern wir atemlos die Seiten um, die David Grossman über sie, seiner guten Freundin, verfasst hat. Er ist ein Schriftsteller, der vor nichts Angst hat, nicht vor den kleinsten Seelenregungen, nicht vor den empfindlichsten Nöten, er ist buchstäblich ein leeres Gefäß, ein Resonanzboden, in das dies alles hineinfallen kann und darf. Und er hat von Eva Panic Nahir die Erlaubnis erhalten, aus ihrem Lebensstoff eine Geschichte nach seinen Erwägungen zu machen, Akzente zu versetzen. Ihre Geschichte so zu erzählen, »so wie sie nie gewesen ist«, schreibt David Grossman selbst in seinem Nachwort.
Er folgt den Spuren, die der Dokumentarfilm ausgelegt hat, dem Zusammentreffen von Eva (im Buch: Vera), ihrer Tochter Tiana (im Buch: Nina) und ihrer Enkelin Gili anlässlich des 90. Geburtstages von Eva in ihrem Kibbuz. Dort beschließt die Familie, nach Goli Otok zu fahren, um sich dem Schmerz zu stellen, der diese Familie zu der hat werden lassen, die sie ist und der sie lähmt. Er lässt Gili von dieser Zusammenführung erzählen und in Rückblenden die Familiengeschichte aufblättern. Sie ist erfüllt von Grausamkeiten, Verletzungen, Wiedergutmachungen, die nicht wieder gutzumachen sind, von Einsamkeit und Zurückweisung, und die Menschen, die doch so eng sind, sind alle ganz fern voneinander, außerhalb sich selbst und der anderen. Und doch bekommen die Lebens-Masken im Laufe der Romangeschichte Risse, dringt ein wenig Zartheit durch die Panzer, die sich jede umgürtet hat.
Verfangen in diese Rückblenden, noch ein weiteres Mal verfangen in das Medium des Films – denn Gili dreht einen Film über diese Reise – kulminiert die Geschichte darin, das Nina endlich erfährt, dass ihre Mutter sie willentlich verlassen hat, dass sie im Moment dieser Entscheidung vollkommen außer sich war, erst wenige Minuten zuvor erfahren hatte, dass ihr Mann sich umgebracht und damit seine Frau und seine Tochter verlassen hat. Und dass sie diese Entscheidung bis zu ihrem Lebensende gegen ihre Tochter verteidigt.
Grossman verstärkt diese an sich schon tragische Geschichte weiter, in dem er Nina als ein unendlich verletztes Wesen zeigt (was die reale Nina/Tiana nicht ist), unfähig zu lieben, die ihre eigene Tochter Gili ebenso verlässt wie sie verlassen worden ist. Und in Gili lebt dieses Trauma zunächst fort, sie hasst ihre Mutter und hassliebt ihre Großmutter. Sie liebt einzig ihren Vater Rafael, der ebenso verloren in den Koordinaten dieser Mutter-Tochter-Beziehung herumirrt wie sie. Er zeigt dabei die Traumata auf, als ständige Begleitung von einem Leben, das man nicht mehr entwerfen oder gestalten kann, dem man nur noch irgendwie folgt und versucht, es so gut wie möglich hinzukriegen.
Und Eva/Vera hat es hinbekommen, sie war eine allseits geachtete und verehrte Kibbuzim, aber im Leben gibt es immer ein Außen und es gibt ein Innen, es gibt immer eine Einzigartigkeit, und dieses Innen zu zeigen, darin ist David Grossman ein Meister.

Susanne Asal (Foto: © Peter-Andreas Hassiepen)

David Grossman »Was Nina wusste«
Roman, Hanser Verlag, München 2020, 352 S., 25 €

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert