Die Kunsthalle Schirn stellt mit »Life Time« das Werk von Ugo Rondinone vor

Dreizehn lebensgroße, nur mit Kopfhauben bekleidete nackte Figuren, »nudes«, kauern über den Boden des Eintrittsraums der Schirn-Galerie weit verteilt. Wie Schaufensterpuppen mit lose verschraubten Gliedmaßen muten sie an. Sie sind spektakulärer Teil von »Life Time«, der allerersten dem in New York lebenden hoch(preisig) gehandelten Schweizer Künstler Ugo Rondinone gewidmeten Werkschau in Deutschland – nicht eben aber ein Begrüßungskomitee. Jede sitzt für sich, jede sitzt anders, in sich gekehrt mit gesenktem Haupt, ausgebrannt vielleicht, ob Mann oder Frau, »puppets of colour« könnte man sie politisch korrekt beschreiben – und dann nachdenklich über so viel Traurigkeit westwärts gehen in den Nachtraum, dem laut Kurator eigentlichen Ausgangspunkt, der mit großen Leinwand-Formaten von sternhageldichten nächtlichen Himmelslandschaften (aus Sand und Stein), einem mittlings mit geschlossenen Augen und ziemlicher Wampe liegenden Clown sowie einem schwer verriegelten schwarzen Tor aufwartet, das einem Verließ zugehören könnte. Keiner kommt hier weiter, aber wir sollen ja eh die ostwärts führende Route über die Nackten und zwei weitere Räume der Schirn-Galerie hinweg nehmen – mit porösen Sandstein-Gebilden und kleinformatigen Zeichnungen der eine, mit zwölf Kurzfilmen im Dauerloop der andere –, um aus dem Dunkel ins Licht eines vom Ende des Raums aufleuchtenden himmlischen Sonnenaufgangs zu treten. Fünf aufreizend rote Äpfel aus Kupfer liegen davor, von oben rieselt es papierenen Schnee.
Eigentlich ist »Life Time« eine recht übersichtlich gestaltete Schau, werden doch die zumeist aus umfangreichen Werkgruppen entnommenen 80 Arbeiten des Künstlers auf dem 140 Meter langen Galerie-Parcours großflächig in fünf Arrangements präsentiert, die schnell durchschritten sind. Man muss sich Zeit lassen für sie. Nur so ist zu erfahren, dass zum Beispiel die erschöpften »Puppen« individuelle Abgüsse von Mitgliedern einer kanadischen Tanzkompagnie sind, und dass der Künstler dem dafür verwendeten Wachs (daher die haarschützenden Kopfhauben) Erdpigmente aus aller Welt untergemengt hat – zusammengetragen durch eine Aktion im World Wide Web. Für jede dieser isolierten und sich selbst überlassenen Spezies eine andere Erdmischung. Angegriffen, fragil wirken sie plötzlich, vielleicht sogar verletzt. Aber auch irgendwie einladend, sich dazuzusetzen und ihnen mitfühlend Gesellschaft zu leisten. Zur Eröffnung fühlte indes noch niemand so richtig mit ihnen mit.
Erde befindet sich auch in der fast bis hin zur Decke reichenden voluminösen braunen Wand, mit der Rondinone das irdische Puppen-Valley durchzieht. »curved standing landscape« nennt er die monumentale Skulptur: einen vertikal gestellten Acker. Im Kontrast leuchten an den verbliebenen weißen Wänden drei hellfarbene kreisförmige Fenster, die aus der Nähe als zeigerlose Uhren mit römischen Ziffern zu erkennen sind – »red clock«, »blue clock«, »yellow clock« – und alles andere als die Zeit ansagen. Während die Figuren in den Jahren 2010/2011, und die Uhren 2018 entstanden sind, wurde die voluminöse Ackerwand eigens und wohl auch ausschließlich für »Life Time« errichtet. Ob sie die Ausstellung überlebt?
Jeder, der fünf Räume lädt zum Bleiben, zum Gedankenwandern, ja vielleicht sogar zum Meditieren ein. Kunstexperten, so verrät es der Katalog, wissen gar Fährten zu antiken Mythen und in die deutsche Romantik aus den Exponaten zu lesen, spüren Zitate der Kunstgeschichte auf oder legen Bahnen zu Rondinones Außenseiter-Biographie als Kind italienstämmiger Arbeitsimmigranten in der Schweiz und vor allem als ein mit den Aids-Toden seines frühen Freundes sowie seines späteren Lebensgefährten konfrontierten Schwulen mit einem dadurch bedingten starken Bezug zur Natur.
Seine schönsten, angenehmsten und wohligsten Minuten erlebte der Chronist aus dem Dunkel des Video-Saals tretend beim Anblick der die Ausstellung schließenden »pure sunshine«-Scheibe am östlichen Ende der Galerie, die mit ihren sonnengelben konzentrischen Kreisen wie gemacht für Zen-Bogenschützen scheint. Flirrend sirrend rieselt dazu der Schnee aus der »thank you silence«-Truhe von der Decke. Und am Boden ein Apfelstillleben »in line«: Vanitas mit Augenzwinkern.
Drei weitere Arbeiten Rondinones gibt es außerhalb der Galerie: die einen 2.000 Jahre alten Olivenbaum darstellende phantastische Skulptur »flower moon« inmitten der unteren Rotunde, Aberhunderte von Bildern aus Kinderhand über den Mond an den Wänden der oberen ein Stockwerk drüber. Und auf dem Dach der Schirn der Ausstellungstitel »Life Time« als regenbogenfarbene und -geformte Wortskulptur – das Markenzeichen des Künstlers.

Lorenz Gatt

Foto: Ugo Rondinone, life time, 2019, Neon, Acrylglas, lichtdurchlässige Folie, Aluminium
© Ugo Rondinone, Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022, Foto: Norbert Miguletz

Bis 28. September: Di., Fr.–So., 10–19 Uhr; Mi., Do., 10–22 Uhr
www.schirn.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert