Die MMK-Ausstellung »Corpsing« zeigt zwei Arbeiten des britischen Video-Künstlers Ed Atkins

Postmoderne Zeiten

Alles, was es hier gibt, hat es nie gegeben. Die beiden Videos von Ed Atkins, die das Museum Moderne Kunst in der Ausstellung »Corpsing« präsentiert, sind gänzlich in der Werkstatt des britischen Künstlers aus Nullen und Einsen entstanden. Kein Stuhl, kein Bild und schon gar nicht der hyperreale Mann mit dem traurigen Blick in ihrem Zentrum existiert außerhalb des Mediums.
Das Alter Ego, das Ed Atkins entwickelt hat und dem eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Schöpfer nachgesagt wird, nimmt uns mit auf bewegte Reisen. Es ist eine Figur, die ihre Künstlichkeit keineswegs verbirgt, sondern der Kamera nachgerade offenbart, wenn diese so dicht die silberstählerne Zahnreihe abfährt, dass man sich darüber wundert, dass die Aufnahme nicht beschlägt. Und dennoch mobilisiert der Avatar, wenn er singt, spricht, weint, ausdruckslos einsam ins Leere schaut oder gar wild masturbiert, unsere Gefühle. Corpsing ist ein Begriff aus dem Schauspiel und bezeichnet die Momente wie Texthänger, in denen Darsteller aus ihren Rollen fallen.
In zwei großen Räumen des MMK-Parterre wird auf fünf großen Leinwänden parallel eine Geschichte erzählt, die sich realiter vor etwa drei Jahren in Tampa, Florida, zugetragen haben soll. Ein Mann ist dort mitsamt seinem Schlafzimmer in einem Erdloch verschwunden, das sich ohne Ankündigung auftat. Ed Atkins macht uns in der 22 Minuten langen Sequenz mit dem Interieur dieses Raums und seinem Bewohner bekannt, der wie in einem Bunker zu leben scheint. Wir sehen eine Nachttischlampe, ein Fernsehgerät, Bücherregale, achtlos hingestreute Klamotten und ihn selbst, den Kopf auf seine verschränkten Armen abgelegt, leer zur Decke starren oder vor sich hin singend, bevor das komplette Ensemble zu vibrieren beginnt und nachgerade verschluckt wird. »Hisser«, zu deutsch Zischer, heißt die Arbeit.
Mit einem sehr vertrauten Ausschnitt der Welt des Reisens konfrontiert die im ersten Stock platzierte Arbeit »Safe Conduct«, deren Titel sicheren Transfer verheißt. Ausgangspunkt ist die Freizügigkeit als Inbegriff der individuellen Entfaltung und ihre Pervertierung durch das immer weiter greifende Verlangen nach Sicherheit. Wir erleben Atkins Alter Ego dieses Mal im Security-Bereich, wo nicht mehr nur Taschen- und Kofferinhalte in den obligatorischen  Plastikwannen gescannt werden, sondern der zu Schützende selbst in den Fokus rückt. Die Figur entledigt sich ganzer Körperteile, ihrer Nase, des Hirns, der Gesichtshaut, eines Arms, aber auch ein halbes Henderl und eine Pistole kreisen auf dem Laufband. Atkins Film ist mit Maurice Ravels »Bolero« unterlegt, zu dessen dramatischem Crescendo ein Flugzeug von British Airways und in deren herangezoomtem Fenster unser Protagonist mit panischem Blick erscheint. Über den Wolken muss die Sicherheit grenzenlos sein.

Lorenz Gatt (Foto: © Ed Atkins)
Bis 14. Mai: Di. – So. 10 – 18 Uhr, Mi. bis 22 Uhr
www.mmk-frankfurt.de

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