Die revolutionären Botschaften der Paula Modersohn-Becker in der Schirn

Sie ist nicht hübsch, sie ist nicht idyllisch, sie ist grob, sie ist merkwürdig. Sie ist darauf aus, Tabus zu brechen, Blickwinkel neu zu definieren. Sie ist visionär, verwandelt das Alte in etwas Neues. Sie ist ganz einfach ungefällig. Die Kunst der Paula Modersohn-Becker (1876-1907).
Christian Schwochow hat sie kürzlich noch in einem überzuckerten Spielfilm als lockenköpfigen niedlichen Hüpfauf im zartschmelzenden Sonnenlicht gezeigt: mit Carla Juri als Malerin; ein süßes aufgedrehtes Dingelchen, das ewig unter der Nicht-Schwangerschaft litt und deshalb in der berühmten Künstlerkolonie von Worpswede so viele Mutter-Kind-Bilder malte.
Nein danke, der männlichen Glättungen ihrer künstlerischen Biografie sind nun genug gestreut, es ist höchste Zeit für diese engagierte Ausstellung in der Schirn, komponiert von Kuratorin Ingrid Pfeiffer, die sich Paula Modersohn-Becker von innen nähert, so scheint es, von ganz nah.
Man muss in ihre Zeit hinein springen, um das Revolutionäre ihrer Arbeiten zu erkennen, das hier auf 116 Werken präsentiert wird: – Kohlezeichnungen von nackten Männern (komplett nacktes Modellstehen vor Malerinnen war damals überhaupt nicht erlaubt, ein aufschlussreiches Foto zeigt eine Unterrichtsstunde im Pariser Atelier Julian; selbstverständlich war das männliche Modell bekleidet),
– nahezu abstrakte Landschaften aus grob zusammengesetzten statisch wirkenden Farbflächen in höchst expressionistischer Farbgebung,
– Porträts alter, abgearbeiteter Menschen, Armenhäuslerinnen, Bauern, Bilder von Außenseitern der Gesellschaft,
– messerrückendicker Farbauftrag, mit dem Pinselstiel zerhackt,
– der »Zoomeffekt«, den Blick des Betrachters auf scheinbare Bildausschnitte lenkend, die aber das Hauptthema sind,
– und Kinder, Mädchen, Jungen, Porträts, in Genreszenen, nackt, mit groß geöffneten Augen, höchst stilisiert. Keines lächelt, keines spielt, keines ist niedlich.
Das war in dieser Epoche radikal, provokativ, unvorstellbar, keine hat gemalt so wie sie. Und keiner auch: weder Cezanne noch Degas noch Picasso.
Die junge Paula Modersohn-Becker war zweifellos sehr weit gegangen, ohne sich um das Publikum zu kümmern, wie sie einmal selbst Auguste Rodin charakterisierte, dessen Pariser Atelier sie besuchte. Wie weit, das machte ihre bildnerische Hinterlassenschaft deutlich, aber auch ihr Lebensentwurf. Zwischen 1901 und 1907 lebte sie insgesamt zwei Jahre in Paris, pendelte immer wieder zwischen Worpswede und der französischen Metropole, besuchte Ausstellungen, Galerien und Museen, nahm Mal- und Zeichenkurse, verkehrte in Kunstkreisen. Nur ein einziges Mal begleitete sie dabei ihr Mann, der Maler Otto Modersohn und Gründer der Künstlerkolonie.
Konstruiert man ihre Biografie aus ihren Gemälden, so wird deutlich: Sie brach Tabus, nicht nur mit ihrer eigenen Lebensgestaltung, sondern auch in der Wahl ihrer Sujets und Motive und in der unbekümmerten Aneignung und Inspiration kunstgeschichtlicher Epochen und Techniken, Renaissance, Frühbarock, Spätgotik, Antike, altägyptische Fayum-Mumienporträts. Dazu war sie nahezu rastlos produktiv, hinterließ in ihrer kurzen Schaffenszeit 734 Gemälde und 1.500 Arbeiten auf Papier. Und wie stark sie Tabus brach und gleichzeitig mit (Selbst-) entblößungen kunsthistorische Ikonen schuf, wird in der Ausstellung immer wieder reflektiert. Sie malte zur Selbsterkundung und zur Erkundung ihrer Welt; die finanzielle Absicherung schuf ihr Mann mit dem Verkauf seiner Landschaftsbilder. Sie dagegen malte fast komplett unverkäuflich.
Ihre Gemälde und Zeichnungen sind in der Schirn nach Themenschwerpunkten in einer Abfolge offener Kabinette aufgefächert. Vorgestellt wird sie uns zunächst anhand von Porträtfotografien, kontrastierend zu ihren Selbstbildnissen, die sofort ihre eigenwillige Art der Porträtmalerei erhellen: die Lust an der Stilisierung und die expressionistische Herausarbeitung der Wesenszüge. Auf dem ersten gezeigten, einem 1898 entstandenen Selbstporträt, schaut sie uns zweifelnd, forschend aus riesengroßen Augen an. Zwei weitere Selbstbildnisse seien noch genannt: »Selbstbildnis mit Zitrone«, mit fast dunkler Gesichtstönung und direktem, festen Blick, in der Technik der Fayum-Mumienporträts, geschmückt mit Ketten und Rosenblütenaccessoires, und das »Selbstbildnis zum 6. Hochzeitstag«, das sie nahezu entblößt zeigt, der erste, von einer Frau gemalte weibliche Akt in der Kunstgeschichte, nur mit einem weißen Lendentuch über dem vorgewölbten Botticelli-Bauch. Die riesengroßen Augen, die den Betrachter zu bannen scheinen, sind eines ihrer unverwechselbaren Stilmerkmale.
Es folgen Porträts von Freunden und Freundinnen, und die Malerin geht sie ganz direkt und furchtlos an: Paul Modersohn schläft, Rainer Maria Rilke bleibt der Mund offen stehen, Clara Rilke-Westhoff blickt melancholisch aus dem Bild.
Mit rund 400 Gemälden bilden Kinderporträts einen wesentlichen Bestandteil ihres Oeuvres. Keines davon ist süß, auch wenn sie Jungen und Mädchen nackt auf Wiesen, an Bächen, inmitten von Blumen und in Wäldern zeigt. Sie blicken den Betrachter fest, ja fast herausfordernd an, oder sie schlagen die Augen nieder. Immer ernst, immer als Individuum erkennbar, voller Kraft und Präsenz. In einem Jungenbildnis scheint dessen blondes Haar förmlich mit der Sonne im Himmel zu verschmelzen. Ihre Mutter-Kind-Bildnisse beziehen sich in mehr als nur einem Fall auf die Maria-Jesus-Ikonografie, oft sind sie von einer süßen, aber keinesfalls süßlichen Innigkeit geprägt. Jede Mutter ist hier ihre eigene Maria.
Da der Künstlerin das Geld fehlte, Modelle zu bezahlen, bat sie die Bewohner*innen des Armen-Waisenhauses von Worpswede, für sie zu sitzen. Auch dies ist als Tabubruch zu verstehen. Die Armenhäuslerin wurde zum bildfüllenden Thema erkoren, eine Bäuerin, die eine Astgabel trägt, zum Subjekt.
Bei allem Wunsch nach Abstraktion, nach stilisierter Vereinfachung und expressionistischer Reduzierung auf die Essenz, die besonders in ihren Landschaftsbildern und Dorfszenen zu erkennen ist: wie wunderbar, nahezu fotografisch genau sie zeichnen konnte, zeigen ihre lebensgroßen Akte und Porträts eines alten Bauernpaares.
Es ist viel zu entdecken in dieser Ausstellung, ihre Eigenwilligkeit, ihre Unbezähmbarkeit auf der Suche nach sich selbst. Aber auch, und das macht es für die Besucher*innen so spannend, ihre unvermittelte Direktheit, sie erzwingt geradezu den Dialog. Man mag den Blick nicht abwenden.

Susanne Asal

Fotos:

1. Ausschnitt: Paula Modersohn-Becker in ihrem Atelier bei Brünjes um 1905
© Karl Brandt

2. Sitzender Mädchenakt mit Blumenvasen, 1906/1907, Öltempera auf Leinwand, 47,5 × 52 cm
© Von der Heydt-Museum, Wuppertal

3. Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag, 1906, Öltempera auf Pappe, 101,8 x 70,2 cm, Museen Böttcherstraße
© Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen

 

Bis 6. Februar, Di., Fr.-So 10–19 Uhr, Mi., Do. 10–22 Uhr.

www.schirn.de

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