»Empörung« von James Schamus

Freigeist unter Frommen

»Wir leben im Jahr 1951«, sagt die Mutter beim Besuch auf seinem College im Mittelwesten, »du kannst tun, was du willst, du lebst nicht mehr in der alten Welt.« Marcus hat allen Grund, ihren Worten zu misstrauen. Der ernste Metzgersohn aus Newark hat schnell gemerkt, wie wenig Spielraum ihm im engen Kosmos des Campus bleibt. Frömmigkeit ist hier ein sozialer Zwang; auch als Jude muss er am Gottesdienst teilnehmen.

Die Vorstellung von persönlicher Freiheit ist in Philip Roths Vorlage eine Illusion. Der Bildungsroman ist vielmehr besessen von der Idee der Kausalität, der schicksalhaften Verkettung der Ereignisse und ihrer unausweichlichen Konsequenzen. Marcus (Logan Lerman) entgeht der Einberufung nach Korea durch ein Stipendium. Er ist ein eifriger, begabter Student, der sich zutiefst entwurzelt fühlt. Seine progressiven Überzeugungen finden keinen Widerhall bei Kommilitonen und Lehrerschaft. Zwar lernt er Olivia (Sarah Gadon) kennen, die ebenfalls eine Außenseiterin ist. Aber der Oralverkehr, den sie ihm bei ihrem ersten Rendezvous anbietet, verstört den unerfahrenen Freigeist nachhaltig.
»Empörung«, das umsichtige Regiedebüt des Drehbuchautors und Produzenten James Schamus, spielt in jenem adretten Zeitalter, das vor der Erfindung der Jugendkultur liegt. Erotische Signale sind noch züchtig, der Sex findet unterhalb des Bildkaders statt. Christopher Blauvelts Kamera legt eine Unschärfe über die Szenerie, die diese sacht entrückt, aber nie Nostalgie weckt. Die McCarthy-Ära wird mit keinem Wort angesprochen, ihr Klima ist jedoch allgegenwärtig. In den Dialogen artikuliert sich schleichend Repression. Marcus’ Auseinandersetzung mit dem sittenstrengen Dekan, den Tracy Letts teuflisch wohlwollend spielt, ist das Herzstück des Films: Mehr als eine Viertelstunde belauern sich die Kontrahenten bei diesem wohltemperierten Streit der Ideologien. Er ist keine Minute zu lang. Aber Empörung ist etwas anderes als Erregung.

Gerhard Midding
EMPÖRUNG (Indignation)
von James Schamus, USA/China 2016, 110 Min.
mit Logan Lerman, Sarah Gadon, Tracy Letts, Linda Emond, Danny Burstein, Ben Rosenfield
nach dem Roman von Philip Roth
Drama
Start: 16.02.2017

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert