Eva Schmidt schreibt nach zwanzig Jahren wieder einen Roman

Von Menschen und Hunden

Eva Schmidt, eine österreichische Schriftstellerin, die in Bregenz lebt, hat sich mit ihrem neuen Roman sehr, sehr lange Zeit gelassen. Das hat sich, wo immer auch die Gründe dafür lagen, ausgezahlt. Ihr neuer Roman »Ein langes Jahr« darf als kleine Sensation angesehen werden. Und zwar, weil sie es verstanden hat, die Sensationen im Kleinen aufzuspüren, im Alltag ihrer alltäglichen Helden.

Man liest und liest und liest. Viele Episoden, die – scheinbar – keinen Zusammenhang ergeben. Meist nur drei oder vier Seiten lang. Man fragt sich, leicht verärgert, warum der Verlag dieses Buch »Roman« nennt. Bis man etwa, nach der Hälfte, langsam einen Zusammenhang begreift.
Das Beziehungsgeflecht, das Eva Schmidt, scheinbar weitmaschig, gestrickt hat, erweist sich als äußerst stabil. Deshalb schadet es nichts, nach der Hälfte noch einmal von vorne anzufangen. Es ist also ein vertracktes Buch, aber einfach toll, von einer Poesie getragen, die noch das jämmerlichste Leben durchdringt.
Eine Siedlung am See, in einer österreichischen Stadt, in der sich die Autorin bestens auskennt. Oberhalb der Siedlung, dicht an den kleinen Reihenhäuschen, steht ein Wohnhochhaus. Wir lernen viele Menschen aus dieser Gegend kennen, zum Beispiel Herrn und Frau Agostini. Die ältere Frau, immer unzufrieden, kam nach einem Sturz in ein nahe gelegenes Pflegeheim. Ihr Mann kümmert sich geradezu rührend um sie. Doch eines Tages stürzt er ebenfalls, sitzt im Rollstuhl und muss zu ihr ziehen. Den Hund, der auf den aparten Namen Hemingway hört, kann er jetzt nicht mehr Gassi führen. Schnitt. Neue Episode. Das übernimmt nun Benjamin, ein zwölfjähriger Junge aus dem Hochhaus. Dessen Mutter, ein Sozialfall, trinkt zu viel und kümmert sich kaum um ihr Kind. Einen Hund erlaubt sie ihm schon gar nicht. Schnitt. Neue Episode. In das Hochhaus zieht Ayse, die auch in Benjamins Klasse kommt. Die kurze Freundschaft der beiden findet ein jähes Ende, als das junge Mädchen bei einem Verkehrsunfall stirbt. Schnitt. Neue Episode. Joachim, der Sohn eines reichen Vaters, wohnt in einer ansehnlichen Villa in der Nähe. Er möchte gerne mit Benjamin befreundet sein. Seine ebenfalls trinkfeste Mutter ist gerade von zu Hause ausgezogen. Joachim leidet unter der Trennung seiner Eltern. Die Mutter lebt inzwischen ebenfalls in dem Hochhaus und gaukelt dem Jungen vor, bald wieder einen guten Job zu haben, viel Geld zu verdienen und ihn dann wieder zu sich zu nehmen. Schnitt. Scheinbar neue Episode. Denn jetzt erkennt man den Aufbau dieses Romans, der tatsächlich einer ist. In dem Hochhaus wohnt jetzt eine Fotografin, die früher Reisereportagen gemacht hat und lange Zeit in einem der Häuschen in der Siedlung gelebt. Es ist die Ich-Erzählerin. »Inzwischen lebe ich von einer Pension (…) ich kann mir ein angenehmes Leben leisten.« Sie ist allein, fühlt sich aber nicht einsam, denn auch sie besitzt einen Hund. Aus dem Geflecht von Beziehungen tritt jetzt ein Mosaik hervor.
So lapidar, distanziert, fast kühl, wie sie diese Veränderungen beschreibt, so emotionslos erzählt sie von den Sehnsüchten, Enttäuschungen und Lebenslügen der Menschen. Äußerlich betrachtet scheinen sie oft ein harmonisches Leben zu führen, doch, genauer hingesehen, erkennt man bei vielen den Abgrund, vor dem sie stehen.
Zum Beispiel: Masarek. Die Frau, von der er glaubt einen Sohn zu haben, wollte und will nichts von ihm wissen. Er, dieser Masarek, taumelt koksend und trinkend durch sein verpfuschtes Leben. Eines Tages erhält er von seinem vermeintlichen Sohn, inzwischen ein erwachsener Mann,  einen Brief: »du bist nicht mein Vater. Tut mir leid, wenn du all die Jahre über geglaubt hast, es zu sein.«
Eva Schmidt beschreibt, wie gesagt, kurze Episoden. Sie schreibt kurze, prägnante Sätze. Es lohnt sich, genau zu lesen. Denn ihr Buch ist genau konstruiert. Am Anfang kauft sich eine Frau in einem Baumarkt eine Leiter und Dübel. Erst am Ende, als ihr Hund unaufhörlich winselt, weiß man warum.
Es wird viel geraucht in diesem Roman. Und noch mehr getrunken. Hunde spielen eine große Rolle. »Durch Hunde lernt man Menschen kennen, ob man will oder nicht.« Die knappen Sätze, voller Trostlosigkeit, erinnern sehr an ihre österreichische Kollegin Marlen Haushofer (»Die Wand«). Doch anders als bei ihr lässt Eva Schmidt gelegentlich einen Hoffnungsschimmer aufscheinen. Auch die Ich-Erzählerin entwickelt wieder Lebensmut, sie kauft sich einen neuen VW-Bus und will sich wieder auf den Weg machen: »ein paar Tage in die Berge. Vielleicht auch ein bisschen weiter.« Nicht nur Eva Schmidts Bilder bleiben, ihr Buch überhaupt wirkt nach.

Sigrid Lüdke-Haertel
Eva Schmidt: Ein langes Jahr. Roman.
Salzburg: Verlag Jung und Jung, 2016, 209 S., 20 Euro

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