Georges Simenon und (nicht nur) sein Kommissar Maigret werden neu präsentiert

Er gilt als der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. 1903 in Lüttich geboren, 1989 in Lausanne gestorben, hinterließ er 75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane, dazu über 150 Erzählungen. Und weltweit Millionen und Abermillionen von begeisterten Lesern. Ein Vielschreiber, gewiss. Doch nicht nur Gabriel García Márquez hielt ihn auch für den »wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts«. Viele seiner Kollegen haben ihn bewundert. Die Leser haben ihn geliebt. Und durch die Filme mit Jean Gabin als Kommissar Maigret ist er unvergesslich geworden. Mit der Pfeife im Mund, einer gehorsam dienenden Ehefrau in der Küche, verkörpert dieser Maigret ein Menschenbild des 19. Jahrhunderts. Nicht Rasterfahndung und aufwendige Computerprogramme haben ihn zum Erfolg geführt, sondern Verstand, Kombinationsgabe und Beharrungsvermögen. Alle 75 Maigret-Romane werden, teils neu übersetzt, teils in überarbeiteter Übersetzung, bis Herbst 2020 im Kampa-Verlag, wieder aufgelegt. Dazu seine Romane, die »Briefe an meine Mutter«, »Intime Memoiren«, auch in Zusammenarbeit mit Hoffmann und Campe.
Lohnt sich das?
Vielleicht kann schon der 45. Fall, »Maigret und die junge Tote«, darüber Aufschluss geben.
Eine junge Frau um die zwanzig wird nachts um drei Uhr auf einem kleinen Platz im Montmartre tot aufgefunden. Sie hat keine Handtasche mehr bei sich. Ihr fehlt ein Schuh. Die Lippen sind durch Schläge aufgeplatzt.
Kommissar Maigret wollte sich gerade auf den Heimweg machen, da erreicht ihn der Anruf. Er »warf sich seinen Mantel über, suchte seinen Hut« und, natürlich, steckte er sich eine Pfeife an. Das Mädchen, das da auf dem Boden lag, hatte sich schick gemacht. Ihr blaues Satinkleid war allerdings verschlissen und abgetragen und es schien ihr zu groß zu sein. Vielleicht kam sie von einer Feier, vielleicht war sie aber auch ein Animiermädchen. Die Obduktion ergibt einen Schädelbruch durch einen schweren Gegenstand, der Magen enthält etliche Mengen Alkohol.
Der Fall wird gelöst, klar. Der Reiz dieses Falles liegt, wie fast immer bei Simenon, keineswegs nur in der Lösung. Sondern, vor allem, in Maigrets Art der Ermittlung. Er sammelt Puzzleteile, setzt sie nach und nach zusammen, so dass am Ende ein Bild entsteht von dem ganzen kurzen Leben des Mädchens, das heißt von der Lebenswelt der Opfer und der Täter.
Louise, das ermordete Mädchen, wuchs ohne Vater bei einer desinteressierten, spielsüchtigen Mutter in Nizza auf. Wenn ihr die Schulden über den Kopf wuchsen, machte sie sich gerne mitsamt Tochter aus dem Staub. Louise macht sich mit sechzehn selbständig und geht nach Paris. Sie wohnt zur Untermiete, doch ihr Geld ist bald aufgebraucht. Ein gleichaltriges Mädchen, das sie im Zug kennengelernt hatte, bringt sie heimlich bei einer Tante unter. Es ist das Paris der zwanziger Jahre mit Concierges, die alles beobachten und auch vieles wissen.
Wenn Maigret nach Hause kommt, steht immer eine dampfende Schüssel auf dem Tisch, Madame Maigret bedient ihren Mann, der natürlich in Gedanken immer bei seinem Kriminalfall ist. Nach dem Essen wird er Zeitung lesen, sie den Abwasch machen, später sich mit ihrem Strickzeug zu ihm setzten. Nachts, wenn er nicht schlafen kann, darf sie allerdings mit ihm leiden. Klare Rollenbilder. Von Emanzipation keine Spur. Im Beruf setzen sich diese hierarchischen Verhältnisse fort. Neben Maigret ermittelt in diesem Fall auch sein untergebener Inspektor Lognon. Wie bei Sherlock Holmes und seinem Watson, auch hier der Herr und der nützliche Trottel. Lognon ist immer »missmutig, miesepetrig«, er hat einen »trübsinnigen« Blick und, fast schon tragisch, er kommt immer zu spät.
Louises Tod wird aufgeklärt. Ihr Mörder überführt. »Ihr Tod erschien wie eine Ironie des Schicksals«, das an »einer Kleinigkeit gehangen« hatte, einem »ums Handgelenk gewickelten Kettchen«.
Die Verhältnisse, die Simenon beschreibt, die Figuren, die er entwickelt, sind passgenau in ihre – damalige – Gegenwart eingelassen. Das vielleicht macht ihre Aktualität aus. Maigret ist für uns wieder zu entdecken. Ob es sich auszahlt, ist noch offen.

Sigrid Lüdke-Haertel
Georges Simenon: Maigret und die junge Tote. Roman. Aus dem Französischen von Rainer Moritz, Kampa Verlag, Zürich 2018, 208 S., 14,90 €

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