Hauke Goos‘ kleine, kluge »Spiegel«-Glossen entwerfen ein großes Panorama

Der Titel, mit Verlaub, ist bescheuert. Das Buch dagegen wirklich faszinierend. Die versprochenen »50 Glanzlichter der deutschen Sprache« können viele dicke Bücher ersetzen. Es handelt sich um Zitate, Aussagen, Kommentare von Adorno bis zum Vaterunser, also aus den verschiedensten Bereichen des menschlichen Miteinander, mal eine Zeile, mal eine Seite lang. Goos interpretiert diese Fundsachen und erschließt eine Welt, die dahinter steht. Ein Jammer, dass der »Spiegel« diese »Glanzstücke der deutschen Sprache« quasi online versteckt hat. Ein Glück, dass er sie jetzt, gesammelt in einem Buch, präsentiert.

Hauke Goos schreibt seit 2001 für das »Reporter-Ressort« des »Spiegel«. Ihm geht es vor allem um Sprache. Wie Menschen es schaffen, für Gefühle, Empfindungen, Situationen, die richtigen, aufrichtigen, passenden, glaubwürdigen Worte zu finden. Freude, Trauer, Erstaunen, Entsetzen so zu beschreiben, dass sie in uns nachhallen, in Erinnerung bleiben, beeindrucken oder intensive Gefühle hervorrufen. Der Autor liebt »Prosastellen, Sätze, Absätze, kurze Passagen«. Es geht ihm darum zu zeigen, wie präzise, elegant, anschaulich, verständlich und originell etwas gesagt wird. Es sind Sätze, die stimmen, »die leuchten«. So beschreibt Irmgard Keun den Säufer Joseph Roth in ergreifenden Sätzen, in denen »Sprache das ist, woran man sich klammert, wenn man alles andere verloren hat: das Zuhause, die Heimat, die Hoffnung«. Keun und Roth waren zwei Jahre ein Paar und tranken zusammen »gegen den Untergang ihrer Welt …, gegen das eigene Versinken«. An einem Textstück aus Schillers »Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs«, der Zerstörung Magdeburgs, zeigt Goos den Wahnsinn dieses Krieges. »Alles schiebt und stürzt und drängt und flieht, ein Mordgewühl« sagt Schiller, »mit ehrfürchtiger Begeisterung«. Und dann der erschütternde Satz: »Der Angriff hört auf, weil man seinen Feind nicht mehr findet«. »Lapidarer ist selten die Sinnlosigkeit des Krieges in Worte gefasst worden.« In »Die Kunst des Tröstens« hat Goos einen Text in Erich Kästners »Das fliegende Klassenzimmer« gefunden. Ein Junge möchte, wie alle anderen des Internats, Weihnachten nach Hause fahren. Doch die Eltern sind zu arm, ihm das Geld zu schicken. Zu Hause, »die Mutter weint, der Vater seufzt«. Einsam läuft der Junge durch den Schnee, als er seinem Lehrer begegnet. Der erkennt sofort das Leid, spricht ihn darauf an und alle Tränenschleusen öffnen sich. »Der Kummer packte den Jungen im Genick und schüttelte und rüttelte ihn hin und her.« Der Lehrer wartete eine Weile. »Er wusste, dass man mit dem Trösten nicht zu früh beginnen darf.« Ein Satz, der zeigt, wie sich der Lehrer wohl an seine eigene Kindheit und erfahrenes Leid erinnert und »dass Trost Raum braucht. Die Traurigkeit muss erst weichen, damit der Trost Platz finden kann.« In einem anderen Text zeigt Goos, »Wie man mit vier Wörtern 20.000 Verse vernichtet«. Klopstock hat, wie er selbst glaubt, mit dem Epos »Messias« das Werk seines Lebens geschrieben, die Passionsgeschichte Jesu. Arno Schmidt, selber schwierig und hochmütig und Zeit seines Lebens zu keinem Kompromiss bereit, vernichtet Klopstock in einem »fiktiven Brief«, indem er aber nicht »die Axt wählt, sondern die Pinzette«. Er schickt ihm, in vier Worten: »Anbei den Messias zurück«. Davon, so hofft Goos mit Schmidt, wird sich Klopstock kaum erholen. Der große Verleger Siegfried Unseld schreibt an den Schriftsteller Thomas Bernhard ein Telegramm, das mit dem Satz endet »ich kann nicht mehr«. Fast drei Jahrzehnte Jahre hatten sie Briefe gewechselt, in denen es meist um Vorschüsse, also Geld oder Darlehen ging. Immer beklagt sich Bernhard, er bekomme zu wenig Aufmerksamkeit, »er klagt und tadelt, mahnt und droht«. Bernhard, bekannt als schwierig und gnadenlos in seinen Vorwürfen, »ein Grantler, der aus seiner Unzufriedenheit mit dem Land, in dem er lebt, ein Geschäftsmodell machte und aus dem Granteln eine Kunstform.« »Unselds kleiner Satz ist groß, weil er schmucklos ist: eine Feststellung, jemandem hinterher gerufen, mit dem eine Verständigung nicht mehr möglich ist.« Als »Kunst der Beleidigung« bezeichnet Goos die 1984 von dem damaligen Grünen-Abgeordneten Joschka Fischer an Richard Stücklen gerichtete Erklärung: »Herr Präsident, mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch«. Stücklen hatte Fischer Fraktionskollegen Jürgen Reents aus einer Sitzung geworfen, weil der behauptet hatte, Kohl sei »von Flick frei gekauft« worden. Fischer schafft es, den Stil zu wahren und trotzdem unverschämt zu sein. »Fischer mischte … Stilebenen. Das korrekte ›Herr Präsident‹, dazu das schöne ›Sie‹ und das perfide eingeschobene ›mit Verlaub‹: Da tritt einer ein paar Schritte zurück, während er die Steinschleuder spannt.« Das, was Fischer da von sich gibt, ist für Goos so genial, weil es nach Affekt aussieht, in Wahrheit ist es Kalkül.
Jedes Zitat lässt, dank des Kommentars, eine Welt aufscheinen. Warum diese klugen, glitzernden Glossen dem herkömmlichen »Spiegel«-Leser, der brav für jede Ausgabe zahlt, entzogen worden sind, das weiß womöglich nur die Chefredaktion. Doch, mit Verlaub, vermutlich wissen die es auch nicht.

Sigrid Lüdke-Haertel

Hauke Goos: Schöner schreiben.
50 Glanzlichter der deutschen Sprache von Adorno bis Vaterunser.
DVA / SPIEGEL Buchverlag
München/Hamburg 2021, 208 S., 18 €

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