Im English Theatre stellt »Secret Life of Humans« die Seins-Frage

Schon wieder eine Frau in der Karrierekrise am English Theatre: Im Unterschied aber zur frustrierten Redenschreiberin Francine in »The Totalitarians«, die Nebraska politisch durcheinanderwirbelt, geht es der wegen Plagiatsverdacht vor dem Rauswurf stehenden Anthropologie-Dozentin Ava in »Secret Life of Humans« um das Schicksal der gesamten Menschheit. Entwickelt sich der Mensch in wachsender Einsicht zum Guten fort, oder schafft er sich einfach ab, weil seine Gene gar nicht anders können? Sehr optimistisch ist das von David Byrne verfasste und im corona-bedingt dritten Anlauf sogar persönlich inszenierte Stück nicht.
Byrne hat sich zu dieser unangenehm aktuellen Arbeit von Yuval Noah Hararis Bestseller »Eine kurze Geschichte der Menschheit« inspirieren lassen. Eröffnet wird sie weit weg davon: mit dem Tinder-Date von Ava und Jamie. Avas Auftritt lässt uns vermuten, dass der folgende One-Night-Stand ihrerseits weniger mit Lust und Liebe als mit Jamies einst berühmten Großvater zu tun hat, einem Mathematiker, der in der BBC-Science-Serie »The Ascent of Man« dem steten Fortschritt des Menschen das Wort redete. Nicht nur Jacob »Bruno« Bronowski (1908-1974) und seine Sendung hat es tatsächlich gegeben, sondern auch das ominöse Geheimzimmer, von dem Jamie, der nach dem Tod der Oma den Nachlass verwaltet, stolz erzählt. Klar, dass die Anthropologin dort mit ihm bald nach den Gründen des Zimmer-Lockdowns sucht – und fündig wird. Schritt für Schritt und mit wachsendem Thrill wird enthüllt, dass der Mann, der den Menschen im Fernsehen die schönste Zukunft unter der Fahne von Kunst und Fortschritt verhieß, zur Planungsgruppe der Bombardierung Dresdens gehörte und danach am Manhattan-Project beteiligt war, das die Atombombe entwickelte und zur Anwendung brachte. Ava will diese Entdeckung natürlich veröffentlichen.
David Byrnes Inszenierung zeigt uns in einer Parallelhandlung, wie »Bruno« Bronowski vom Mathematiker-Kollegen George für diesen Auftrag angeworben wird, und in einer weiteren, wie seine Frau, Jamies Großmutter Rita, ihren Mann im Rückblick sieht und wie sie ihn ob seiner Geheimnisse zur Rede stellt. Immer geht es um Vertrauen und Verantwortung, um Ethik und Moral, um das Verhältnis des Menschen zur Wissenschaft – von den Anfängen, den ersten Fußabdrücken der Primaten, bis zum möglichen Untergang.
Auf der weitgehend leeren Bühne von Melanie Schöbel genügen ein Tisch und vier mit Kartons, vergilbten Bücher- und Papierstapeln vollgestopfte Regalschränke, von denen sich einer zum Bett kippen lässt, um diesen Raum in eine Bibliothek oder auch ein Schlafzimmer, in eine Kneipe oder auch ein Fernsehstudio zu verwandeln. Auf die große schwarze Tafel im Hintergrund werden historische TV-Mitschnitte der Serie, Rechenformeln, anthropologische Spuren, aber auch Stadtansichten von oben projiziert. Drei Mal schreiten Darsteller gegen alle Gesetze der Schwerkraft auf einer an die Wand projizierten Straße. Wir blicken aus der Vogelperspektive auf sie, aus der Sicht derer, deren Opfer sie werden: in den Gassen Dresdens, in den Häuserschluchten von Nagasaki. Nach Lichtblitz und Knall rieseln Blätter zu Boden.
Kein bequemes Stück, auch sprachlich nicht. Aber ein lohnendes, das viel zu denken gibt. Und eines, das, wie oft auf dieser Bühne, mit großem Schauspielertheater aufwartet. Peter Clements als versessener Wissenschaftler, Alex Wilson als Kollege und Kümmerer George und Olivia Hirst, die schon bei der Uraufführung des Stücks in Edinburgh dabei war, als Brunos kluge und loyale Gattin, die ihn 40 Jahre überlebt. Magnetischer Mittelpunkt der knapp zweistündigen Aufführung aber ist Suzy Kohane, die immer wieder aus der Handlung tritt, um das Publikum wie ein Guide – oder ganz die Dozentin im Hörsaal – durch die vielschichtige Materie zu führen. Zurück im Spiel gibt sie ihre um wissenschaftliche Rehabilitierung kämpfende Figur resolut, gar ein wenig verschlagen, unbeeindruckt von dem um das Ansehen des Großvaters bangenden Dating-Partners. Dank Jamie Samuel, der dem zunächst als Tropf agierenden jungen Namensvetter zunehmend Kontur verleiht, nehmen wir auch seine Figur ernst. Als Ava ihn am Ende entschuldigend ein »I’m only human« zuraunt, wissen auch wir, dass genau dies das Problem ist, um das sich alles dreht in einem mutigen Stück. In einer weiteren historischen Einspielung der Philosoph Bertrand Russell zu Wort: »Wir müssen lernen uns zu tolerieren, wenn wir miteinander leben und nicht miteinander sterben wollen«.

gt / Foto: © Kaufhold

Bis 29. Oktober: Di.–Sa., 19.30 Uhr; So., 18 Uhr
www.english-theatre.de

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