Ingrid Mylo, Felix Hofmann: Das 100-Tagebuch. Documenta (13)

Kunst, ohne Museum

In einer gerechten Welt würde es Preise regnen auf dieses Buch, würde es zusätzlich in Galerien und Museen zum Verkauf angeboten, hätten alleine die Stadt Kassel und die ihr zugehörende Gesellschaft einige tausend Exemplare abgenommen, könnten die beiden Autoren mit dem Lohn ihrer gewaltigen Arbeit ein paar Monate ihre Miete finanzieren. In einer gerechten Welt wäre dieses Buch ein Ereignis. Aber es geht in ihm um Kunst. Da sind die Maßstäbe noch extremer außer Kraft, da läuft die Ökonomie des Geldes erst recht aus dem Ruder. Obendrein gibt es da noch eine zum Schämen bornierte und feige Ministerial- und Verwaltungsbürokratie.
Hinaus also ins Offene, dorthin, wo im Jahr 2012 Ingrid Mylo und Felix Hofmann einfach auf eigene Faust an jedem Tag der Documenta durch Stadt und Ausstellungen gestreift sind. „Das 100-Tagebuch – Documenta (13)“ lautet der Titel ihrer Beobachtungen, Betrachtungen, Funde, Fragen, Zeugenschaften und Denkanstöße.
Es beginnt mit »Tag 1 / 09.06.12 / 16.00 – 20.00 Uhr«, der erste Satz lautet: »Die präsidiale Eröffnung am Vormittag haben wir ausgelassen.«
Und sofort beginnt die Auseinandersetzung damit, was Kunst tut, kann und will – und was unsereins damit anfangen kann. Ein schönes Wort eigentlich, dieses Anfangen. Indem Ingrid Mylo und Felix Hofmann sich dem Experiment unterziehen, mit dieser 13. Documenta – offizielle Schreibweise dOCUMENTA (13) – und ihren tausendfachen Angeboten im Kassel des Jahres 2012 etwas anzufangen, wird die Lektüre ihres 100-Tagebuchs zum Anfang vieler, vieler Denkprozesse bei uns Lesern. Dieses Buch funkelt und glitzert von Wahrnehmungsperlen, Gedankensplittern, geschliffener Erkenntnis, rätselhaften Funden, Exotik und Nähe, Wahrheiten aller Gütegrade. »Ein Abenteuer im besten Sinne«, nennt Georg Seeßlen in seinem Vorwort das Buch, er sieht es als »Expeditionsbericht« und als Musterbeispiel eines »neuen Schreibens über Kunst«.
Ihre Eintrittskarte: Wenn wir schon vor dem Gesetz der Gesellschaft alle ungleich sind, so sind wir vor der Kunst alle gleich. Die Kunst ist ihnen praktizierter Kommunismus, sie ist für alle da oder für keinen, ist mehr als die schickste Form der Steuerhinterziehung. Jeder kann damit etwas – anfangen. Voilà.
Auch ganz ohne Geld. Nur mit den Sinnen. Derer braucht es alle, schon am ersten Documenta-Tag: »Man muss laufen, schauen, riechen, hören, denken – und weiterlaufen. Die ganze Körpermotorik ist gefragt, diese Documenta beginnt sozusagen in den Beinen, steigt im Körper hoch, oder durchwandert ihn bis hinauf in die Nase, die Augen und Ohren, fordert die ganze Wahrnehmungsmotorik und setzt schließlich das Gehirn in Gang«, notieren Mylo-Hofmann im ersten Absatz, um dann im zweiten gleich ein Stück Documenta-Alltagskunst zu beschreiben. Auf der Treppenstraße zum Friedrichsplatz zieht ein Mädchen eine leere Pizzaschachtel aus einer Plastiktüte, geht zu einem Papierkorb, legt die Schachtel darauf, tritt zurück und fotografiert den Einfall. Die Freundin des Mädchens tippt sich an die Stirn. Das ist auch Kunst, sagt die Fotografin herausfordernd.
Jeden Tag hingehen, bedeutet auch, jeden Tag wieder zurückzukehren. Die Kunst führt aus der (Alltags-)Realität hinaus, aber der Weg kehrt sich um. »Hundert Tage Kunst, hundert Tage einatmen, aufnehmen, erspüren, hundert Tage sich verzetteln, sich verlieren, sich amüsieren, sich infizieren, hundert Tage nachdenken und schreiben. Es gibt keine Kunst außerhalb der Wirklichkeit.«
Das ist das Wunderschöne an diesem 100-Tagebuch. Immer wieder setzt man es ab, schaut aus dem Fenster, auf die in den eigenen Wänden versammelte Kunst, aufs Bücherregal, auf das eigene Leben, auf die Momente des in der Begegnung mit Kunst erfahrenen Glücks. Dieses 100-Tagebuch ist wie eine Musik, die man sich auflegt und weit mehr als 100 Tage hören/ lesen kann. Übrigens macht das Buch tatsächlich auch Lust auf nicht wenig Musik. (Etwa auf Charles Mingus und seine »Tijuna Moods«, aber das ist nur ein Beispiel.)
Einer der Orte, die Mylo & Hofmann während der 100 Tage immer wieder besucht haben, ist die Zimmerflucht im Fridericianum, die Ryan Gander dem Wind überließ. Leere Räume, nur der Wind. Oft bleiben sie dort länger als 15 Minuten, weit länger als das Feuilleton, das diese Installation beim Schnelldurchgang als Wellness-Oase abtat. Am Tag 66 sind sie zum elften Mal in der Filmhalle von William Kentridge (die auch mich – wahrscheinlich fürs Leben – beeindruckt hat). Was man dort wahrnimmt, schreiben sie, »ist nicht analysierbar, nicht kritisierbar, nicht interpretierbar. Es ist das, was es ist, und so, wie es ist. ›The Refusal of Time‹, die Zurückweisung der Zeit. Fünf Projektionsflächen, vorgefundene Wände einer nicht mehr genutzten Lagerhalle, für fünf Filme, die einander überschneiden, aber nicht gleichen. Vielleicht fünf Fassungen desselben Films. Die Zurückweisung der Eindeutigkeit. Und doch als Ganzes ein klassisches Kunstwerk: identifizierbar und unwiederholbar. Hier ist eine der Vorgaben dieser Documenta vollkommen eingelöst – die Wiederzusammenführung der Künste und der Wissenschaften.«
Was das 100-Tagebuch geradezu mustergültig einlöst, ist die Verbindung von Kunst und Alltag. Es ist eine, wie Georg Seeßlen es nennt, »anti-fetischistische Art, über Kunst zu schreiben«. Etwas, das Schwellenangst nimmt, ohne an intellektuellem Maß zu verlieren, auch nicht an Respekt den Schöpfern der Werke gegenüber, und dem, was die Geistesgeschichte der Menschheit ist. Eine Expedition, in deren Schmetterlingsnetzen sich die Welt fängt – und wie die Kunst sie spiegelt. Carolyn Christov-Bakargiev, die sich glücklich über solch ein Buch schätzen kann, wird zitiert mit: »Wissen Sie, es ist wirklich großartig, hier in Kassel die Documenta zu machen – aber angesichts des Zustands unserer Welt wäre es obszön, eine Kunstausstellung alleine um der Kunst willen zu veranstalten.«
Immer wieder sickert die Kunst in den Alltag, etwa in den vielen Beobachtungen von Material; der Zimmermann Hofmann und die Kaffeehausbeobachterin Mylo haben Augen, Daumen, Nase und Ohren für die kleinsten Sinnes-späne. Ein ungeheurer Reichtum an Eindrücken tut sich auf, die Kunstausstellung wird zu einer das Leben durchdringenden Symphonie einer Großstadt. »Das 100-Tagebuch« gehört zu den unlangweiligsten Büchern, die ich je zu lesen das Vergnügen hatte.
Zu einer Reise braucht es auch Humor. Der kommt im »100-Tagebuch« nicht zu kurz. Da gibt es aufgeschnappte Besucherkommentare, Eintragungen aus all den Ausstellungsbüchern, Beobachtungen, Fundstücke. »Nicht über die weiße Linie! Sind Sie blind?«, ruft ein Wärter bei Lara Faverettos überdimensionierter Schrottinstallation. Die haben Angst, meint eine Besucherin aus Florenz, dass dort etwas weggenommen wird. Bei uns, lacht ihr Mann, hätten sie Angst, dass die Leute etwas dazu legen.
»Ich habe den ganzen Tag lang draußen nachgeschaut und genau aufgepasst: auch heute ist wieder kein Meister vom Himmel gefallen«, verzeichnet Tag 11. Wenn ich das alles sehe, dann kriege ich selber Ideen, sagt jemand am Tag 27. Komm, wir gehen weiter, das hier überzeugt mich nicht, sagt ein Mann am Tag 30. Sie meint: Mich auch nicht, aber vielleicht liegt das an uns. Darauf er: Und … ändert das was? An Tag 63: Aber lies erst mal die Unterschriften, dann machen die Bilder noch weniger Sinn.
Was hier fehlt, sind Engel… heißt es am Tag 82. Natürlich ist das Unsinn.

Alf Mayer
Ingrid Mylo/Felix Hofmann: Das 100-Tagebuch. Documenta (13).
Mit einem Vorwort von Georg Seeßlen. Berlin: Getidan Verlag Runhard Sage, 2015. 220 Seiten, broschiert, 15 Euro.
Bezug direkt über die E-Mail-Adresse: hofmann@micromegas.de

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