»Janis: Little Girl Blue« von Amy Berg

Die Last, anders zu sein

Die Energie ist sofort da. »Tell Mama«, eigentlich von Etta James gesungen, also ein Klassiker des Golden Age of Soul, verwandelt sich in Janis Joplins Live-Version in einen gewaltigen Ausbruch. Er zeugt von der Unbedingtheit, mit der sie nicht nur Musik machte, sondern auch ihr Leben lebte.

Der Auftritt muss irgendwann um 1970 gewesen sein, Janis Joplin war damals 27 Jahre alt. Sie sieht indes schon viel älter aus, die Augen verquollen, das Gesicht voller Zeichen eines Lebens, das sich förmlich in jeder Sekunde riskierte, das es liebte, in den Abgrund zu schauen. Kurze Zeit später stirbt Janis Joplin an einer Überdosis Heroin.
Das ist das Tor, durch das sich die Filmemacherin Amy Berg ihrer Protagonisten nähert. Doch schon der Titel ihrer neuen, knapp hundertminütigen Doku – »Janis: Little Girl Blue« – deutet an, dass sie nach einem Blick hinter die Fassade der Rock’n’Roll-Ikone sucht, die wie keine andere die berühmten Worte Neil Youngs verkörperte: Better to burn out than to fade away. Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das, wie der Bruder berichtet, schon als kleines Kind vor allem eines sein wollte: anders. Es ist die Geschichte einer Rebellin, die sich in keine Rolle zwängen ließ und der Grenzen, Regeln, Erwartungen verhasst waren.
Mit Janis Lyn Joplin in der Nähe ihrer Heimatstadt Port Arthur, Texas in einer Bar zu landen, war offenbar brandgefährlich. Nicht nur weil sie einen unter den Tisch saufen konnte, sondern weil sie immer wieder auch Prügeleien suchte. Gleichzeitig entwickelte sie schon früh ein inniges Band zu den großen Blues-Sängerinnen wie Odetta, Billie Holiday und auch Big Mama Thornton, deren immense und zugleich so irrsinnig tiefe Kraft sie später in den Folk und den Rock’n’Roll übertrug.
Amy Berg arbeitet sich in »Janis: Little Girl Blue« handwerklich grundsolide, vielleicht etwas zu chronologisch an Joplins Biografie und ihren großen Festival-Auftritten ab. Anders als Nick Cave in »20.000 Days on Earth« entwirft sie keinen eigenen filmischen Kosmos, sondern nutzt die Mittel der klassischen Dokumentation. Es ist die empathische Erzählung einer komplexen, abgründigen, verletzten Persönlichkeit, die nicht nur durch ihre Musik und alte Interviewausschnitte, sondern auch durch private Briefe, die von Cat Power vorgelesen werden, immer wieder selbst zu Wort kommt.
Und anders als Asif Kapadia, der gerade Amy Winehouse ein durchaus streitbares dokumentarisches Denkmal setzte, bleibt Amy Berg stets behutsam, ohne voyeuristischen Subtext gewissermaßen. Das allein verdient schon mal Applaus.

Tim Gorbauch (Foto: Janis mit ihren Fans, © Getty Images)
JANIS: LITTLE GIRL BLUE
von Amy Berg, USA 2015, 115 Min.
Dokumentarfilm
Start: 14.01.2016

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