Kürzlich gefunden: Ein Roman des Nobelpreisträgers Isaac B. Singer

Er schrieb, sein Leben lang, jiddisch. Später korrigierte er meist die englischen Übersetzungen seiner Bücher. Er stammt aus Warschau und lebte in New York. Sein Vater war Rabbiner. Er wurde ungläubig. Die noch orthodoxe Umgebung, in der er in seinem Schtetl aufwuchs, wurde zunehmend säkularisiert. Mit einunddreißig Jahren, 1935, wanderte er, seinem Bruder Israel folgend, nach Amerika aus und wurde ebenfalls Schriftsteller. Seine Autobiographie erschien in drei Teilen unter dem Titel »Verloren in Amerika«. 1978 erhielt er, als erster und einziger jiddischer Schriftsteller, den Literatur-Nobelpreis. Sein Roman »Der Scharlatan« war ab Ende 1967 unter einem Pseudonym in der jiddischen Zeitschrift »Forverts« erschienen und wurde erst vor einigen Jahren wieder entdeckt. Ein Glücksfall. In seinem Werk, ebenso wie in seiner Biographie spiegelt sich die Geschichte der Ostjuden.

Morris Calisher, ein aus Warschau nach New York emigrierter Jude, macht seine Millionen mit Immobilien. Er erklärte das so: »Das war ganz einfach. Man kaufte ein Haus und kassierte die Mieten.« Mit dem zweiten machte man es genauso. Sein engster Freund ist Hertz Minsker, eine Art Philosoph und erfolgloser Schriftsteller, der allerdings ein »bemerkenswertes Geschick« hatte, »sich in Krisen zu manövrieren«. Und sich dennoch immer irgendwie durchzuschlagen. Dieser Hertz sagt von sich selbst: »Ich bin ein Scharlatan.« Hertz war 1940 mit seiner Frau Bronja nach New York gekommen, die seinetwegen einen reichen Geschäftsmann und zwei Kinder in Warschau zurückgelassen hatte und nun, in New York, trotz schwerer Arbeit wenig Geld verdiente. Hertz hält gelegentlich Vorträge, mit denen er sich einen (gewissen) Namen macht.
Richtig erfolgreich war dieser Hertz aber nur bei Frauen, so auch bei Minna, der Ehefrau seines Freundes und Förderers Morris. Er betrog also seinen besten Freund, lebte von dessen großzügiger finanzieller Unterstützung, doch ein schlechtes Gewissen kannte er nicht. »Wie ein Kabbalist entdeckte er in der Liebe und dem Trieb zum Kopulieren das Mysterium der höheren Welten.« Hier tun sich seltsame Parallelen zu Henry Miller auf. Sex als Heilmittel für den Verlust von Glauben und Hoffnung. Trotz aller Affären ist Hertz ein zutiefst unzufriedener und unsicherer Mensch und Zweifler. Auch das Land, in dem er jetzt lebt missfällt ihm, »selbst die Bäume hatten keine Persönlichkeit und dem Wetter fehlte jede Individualität«. Er hadert nicht nur mit seinem Schicksal, sondern auch mit Gott: während er sicher in New York lebt, herrscht Hitler in Warschau. »Und was tut Gott? Holt er die Seelen in den Himmel? Legt er Hitler auf die Folterbank?« Er tut nichts, er lässt die Grausamkeiten geschehen. Auch der reiche Morris ist der festen Überzeugung, dass es nur einen Grund dafür gibt, »als die Juden sich von der Tora abwendeten, haben sie alles verloren – die Jüdischkeit, die Menschlichkeit«.
Natürlich kommt Morris eines Tages hinter den Ehebruch seiner Frau, doch gutmütig, wie er ist, sucht er auch dafür die Schuld bei sich. »Er selbst war Schuld, dass er von einer solchen Tragödie heimgesucht wurde. Er hatte sich den Bart gekürzt und den heiligen Namen Moses in Morris umgewandelt. Seine Kinder hatte er aufs Gymnasium geschickt.« Hertz befürchtet, dass ihm Morris jetzt den Geldhahn zudreht und Minna, verstoßen von ihrem Mann, zu ihm ziehen könnte. »Hertz hatte jahrelang ein liederliches Leben geführt, aber liederliche Frauen verachtete er. Er verlangte immer reine Liebe.« Hertz ist voller Verzweiflung, »was mache ich jetzt? Ich werde einfach verhungern müssen, das ist mein Schicksal«.
Die Treuherzigkeit dieser Geschichte basiert auch auf der Tradition, auf die sie sich bezieht.
Hertz tröstet sich schnell mit Miriam, einer anderen jungen Frau und legt sich dafür eine Erklärung zurecht: »dass die Natur – oder welche Kräfte auch immer die Welt regierten – für jeden Mangel, jeden Schicksalsschlag, jede Katastrophe einen Ausgleich schuf.«
Und, als wär’s bei Hölderlin, wächst natürlich in der Gefahr das Rettende auch: im größten Kuddelmuddel bekommt er eine Einladung von einer Universität im Mittelwesten. Ein reicher, verrückter Jude finanziert für Hertz einen Studiengang, »was der Mensch braucht, um nicht an Langeweile zu sterben«. Tatsächlich macht sich Hertz auf den Weg nach »Black River«, aber nicht mit Minna, sondern mit Miriam. Lange hält er es dort aber auch nicht aus, zumal, von dem Stifter seiner Professur abgesehen, die Uni-Leute seinen Schwindel bald durchschauen. Singer haut hier schon kräftig in die Tasten. Er operiert mit glücklichen Zufällen und lässt das Schicksal walten, so wie er es braucht. Es geht also hoch her und happig zu. So fällt sein Freund Morris tot um, als er hört, dass sein Sohn eine Deutsche geheiratet hat. Hertz Ehefrau Bronja verschwindet nach Miami. Sie erwartet, allerdings, todkrank, ein Kind von ihm.
Der Roman ist dennoch, besser gesagt deshalb, ein Dokument. Der Geist des Schtetl bleibt lebendig. Die Geschichten. Aber auch die Geschichte. Das Schicksal der europäischen Juden, die alles verloren haben, ihren Glauben, ihre Traditionen, ihre Heimat. Und, soweit sie Europa nicht verlassen konnten, ihr Leben. Vom Ostjudentum ist nur die Erinnerung geblieben – auch
hier, in diesem Roman.

Sigrid Lüdke-Haertel
Isaac B. Singer: »Der Scharlatan«, Roman. Aus dem Englischen von Christa Krüger, Suhrkamp Verlag/Jüdischer Verlag, Berlin 2021, 396 S., 25 €

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