Schauspiel Frankfurt: »Aus Staub« erzählt Geschichten aus dem Westend

Die Trümmer-Verwertungs-Gesellschaft Frankfurt am Main (TVG) gab es wirklich. Sie sammelte Schutt und Staub der zerstörten Häuser nach dem Zweiten Weltkrieg und stellte daraus neue Steine für den Wiederaufbau her. Ebenso gab und gibt es in Frankfurt die Schubertstraße im Westend. Dort, unter der fiktiven, aber bedeutungsvollen Hausnummer (19)45, verortet Jan Neumann im 2. Stock links die Drei-Zimmer-Wohnung, den Schauplatz seiner neuesten Produktion »Aus Staub« im Schauspiel Frankfurt.
Eine Stückentwicklung, der Trend im Theaterbetrieb, nennt er es. Es gibt keinen Text vorab, sondern ein Thema, das von Regie und Ensemble mithilfe von Experten, Interviews und Recherchen erschlossen wird, um dann in Figuren, Konflikten und Situationen übersetzt zu werden. Im Zentrum stehen hier die wechselnden Bewohner jener Wohnung und geben sich, nicht eben chronologisch, die Klinken von sieben Türen in die Hand, nur eine muss zubleiben. Das Interieur, leicht surreal. Unter einer Treppe ins Nichts hängt ein Krokodil, die Fenster sind zu klein oder zu hoch, ein Reh aus Gips (Ringelnatz: Im Park?) schmückt das Wohnzimmer. Bei Bedarf rückt man Mini-Möbel aus den Epochen heran, alles schön pittoresk. (Dorothee Curio)
Großer Wiedererkennungseffekt gleich zu Beginn: der junge Maurizio aus Italien (Altine Emini), gut genährt und reichlich naiv, landet in der linken WG, wird sozialisiert, politisiert (und ausgebeutet!) von Anarchisten, Kommunisten und Spontis. Lotta Continua ist nicht dabei; vielleicht eröffnet er deshalb eine Eisdiele. Dann die fröhlichen Wiederaufbau-Jahre: mit Staubwedel und Schlagergesang hüpft Friederike Ott in Intervallen über die Bühne. Und die Frauenbewegung: für einen solchen Schnellsprech, wie ihn Julia Staufers ultraradikale Feministin an den Tag legt, kann die Rezensentin allenfalls Dutschke erinnern. Dafür aber wohl den 68er (Uwe Zerwer), der die Mutter (Ott) vergeblich nach ihrem Verhalten in der Nazizeit fragt. Er steckt schon tief im Erwerbsleben, als sie ziemlich schockierend gesprächig wird – aber da interessiert es ihn nicht mehr.
Die heimische Kulisse schimmert oft nur aus der Ferne, die Themen der Zeit aber bleiben präsent. Da gibt es Cottbus als Idee für den Neuanfang nach der Wende für eine spottende Besserwessi-Familie mit pubertierenden Sohn (Sebastian Reiß), die selbst jedes Klischee bedient. Und den obercoolen Consulter (Sebastian Kuschmann), der den 11. September 2001 verschläft, ziemlich gebeutelt auf der Couch. Dem bewegenden Schluss aber setzt Uwe Zerwers gealterter Pensionär mit wachsender Demenz. Wenn dann die Bagger anrücken und der Abriss beschrieben wird, kommt man nicht umhin, sich an Alexander Kluges Film »In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod« zu erinnern. Ganz bestimmt haben ihn die Stückentwickler gesehen.
Ein wunderbarer und nachdenklich machender Abend über den Staub, zu dem wir alle wieder werden (Genesis 3/19), mit einem großartigen Ensemble, Licht, Bühne Musik, alles passt zusammen. Und zum Schluss der einzige eingeblendete Text: We are still here.

Katrin Swoboda (Foto: © Felix Grünschloß)
Termine: 1., 10., 28. November, 20 Uhr
www.schauspielfrankfurt.de

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