Bildungsängste am Höllenpool
Die eine, Sara, lässt alles stehen und liegen für Mellfont, die andere, Marwood, rast deshalb vor Eifersucht. Das klingt nach einer Komödie von heute, ist aber ein Trauerspiel von gestern und wird darum, wenn die Schätzchen zur Sache kommen, ganz böse enden.
Gotthold Ephraim Lessing hat »Miss Sara Sampson« von mehr als 250 Jahren verfasst und seinen Zuschauern dreieinhalb Stunden Zeit gelassen, unter Tränen das Schicksal der jungen und fast untadeligen Bürgerstochter zu verfolgen, die einem tadeligen Adeligen verfällt und von seiner Ex hingemeuchelt wird. In Mainz, wo Regisseur Markolf Naujoks das Stück als 75-Minuten-Quicky über die Bühne jagt, geht es indes nicht mehr um die Klassenmoral, sondern allein um Gefühle aus dem Beziehungsdschungel: um Festhalten und Loslassen, um Klammern und Entreißen. Und ein bisschen hat man den Eindruck, dass der Regisseur mehr als der Autor sein Augenmerk auch auf den durchaus zeitlosen Bindungsfuror legt, der Mellefont wie weiland Ted Herold (»Ich bin ein Wanderer«) von einer zur anderen treibt.
Lessing lässt das Geschehen wohlbedacht in England passieren. Denn nicht nur Sara wird vorehelich verführt, mit Marwood hat Mellefont gar ein uneheliches Kind, die kleine Arabella. Der schmale Plot: Weil der alte Sampson vom Zukünftigen der gefallenen Tochter nichts hält, büchst Sara aus, um mit ihrem Lover nach Frankreich zu fliehen, nicht ahnend, dass ihr Papa, der sich sitzen gelassen sieht, heimlich folgt. Wie dieser, so leidet auch Mellefonts Ex unter Verlassensangst und mietet sich wie alle anderen mit Annabelle als Druckmittel im Hafenhotel am Ärmelkanal ein. Dort aber kriegt Mellefont die große Muffe vor der eigenen Traute und tritt so eine fatale Eskalation der Emotionen los.
Statt eines Hafenhotels fährt die Inszenierung irisch-grün bemooste Felsen auf, in deren Mitte aus einer geländerumsäumten Grube die Dämpfe steigen: Das sieht weniger nach Wellness-Becken als nach einem Höllen-Pool aus, auch wenn aus der Musikbox, die es an den Rand dieser Seelenlandschaft geschwemmt hat, später Kinderstimmen tönen. Neben den Sampsons, der Marwood und Melledont lässt Naujok nur noch den Wirt (Daniel Friedl) als Moderator und Briefchenbote auf die Bühne, der Rest von Lessings Personal ist entlassen. Katharina Alfs gibt ihre Sara sinnlich verträumt im eng anliegenden roten Pullover als treuherziges Naivchen, dem man die Liebe unbedingt abnimmt. Wie der luftikussige Mellefont sich diese verdient, bleibt zumindest aus Männersicht sein Geheimnis, allerdings lässt die enge Szenenfolge dem gleichwohl gefallenden Henner Homann auch wenig Raum, uns mehr zu zeigen. Leoni Schulz verkörpert Marwood in feiner Kragenbluse als städtischen Gegentyp zu Sara, der nur die Kontrolle verliert, als ihm die Felle wegschwimmen – und gefällt hier am allerbesten. Ihrer Marwood hätte man statt eines Catfights mit Gift sogar zugetraut, sich in der Rache vom Verursacherprinzip leiten zu lassen.
Den Schauspielern gelingt es, den stark gekürzten, doch weitgehend original gesprochenen Text als eine kurzweilige launige Liebesgeschichte zu präsentieren, die auch dosiert gesetzte Ausflüge in die Gegenwartssprache verkraftet. Nicht ganz ins Bild passt im weißen Unterhemd mit goldener King-Lear-Krone und Hackebeil Saras grenzdebiler Vater (Martin Herrmann), der an der Musikbox immer wieder die Görenstimme von Klein-Sara drückt. Eher verwunderlich sind die sanften Streicher aus Beethovens Neunter zum traurigen Show-down. Sei’s drum. Es macht Spaß.