Staatstheater Wiesbaden zeigt »Die Kinder bleiben«

Voll verspiegelt aus der Beziehung

Zwei Kurzgeschichten der kanadischen Nobelpreisträgerin Alice Munro hat sich Johanna Wehner für ihr Regiedebüt am Staatstheater Wiesbaden herausgepickt: »Die Kinder bleiben hier« und »Dimensionen«. Beide handeln vom Seelenleben junger Mütter, deren Beziehungen kollabieren und die dabei ihre Kinder verlieren. Im ersten Stück behält sie der Mann bei sich, im zweiten kommen sie gewaltsam zu Tode.
Wehner, die am Schauspiel Frankfurt schon im Regiestudio auf sich aufmerksam machte, hat zusammen mit ihrer Dramaturgin Anna-Sophie Güther beide Erzählungen leicht verändert in eine wirksame Bühnenfassung gebracht. Über die Kopplung und die Besetzung beider Stücke mit denselben Schauspielern und kaum veränderten Kostümen entwickelt die Arbeit vor allem aus der immer wieder szenisch durchbrochenen Übertragung der Erzählung auf mehrere Personen eine ganz eigene Qualität gegenüber der Lektüre. Eingestreute Dialoge, rhythmische, chorische Sprechpassagen und Figuren-Choreografien schaffen eine ins Artifizielle gehobene mündige Gegenexistenz zur Prosa. Ein raffinierter Kunstgriff: Wehner lässt die zum  Verwechseln ähnlichen Darstellerinnen der beiden Hauptfiguren, Kruna Savic und Judith Bohle, phantomhaft im jeweiligen Stück der anderen auftauchen und deren Schicksal begleiten. So richtig begreift man die auch textliche Verzahnung freilich erst im zweiten Teil einer stimmigen Inszenierung mit starken Schauspielern, die uns mit dem Gefühl entlässt,  etwa Besonderes erlebt zu haben.
In der ersten Geschichte verstärkt die gewählte Form den tragikomischen Aspekt der Loslösung Paulines (Savic) aus erstickend spießigen Verhältnissen. Alles ist wie immer »tadellos« im Ferienhaus, das Pauline mit dem Familienmensch Brian (Janning Kahnert) und ihren Schwiegereltern (Evelyn Faber, Uwe Kraus) über den Sommer bezieht. Paulines Refugium sind die Kinder und ihre Verpflichtung, die Titelrolle aus Anouilhs »Eurydice« für ein Laientheater zu lernen, mit dessen sich arg avantgardistisch gebärdendem Regisseur Jeffrey (passt: Stefan Graf) sie ein Verhältnis hat – und dessen plötzlicherAnruf das Fanal zu ihrer Reise ohne Widerkehr setzt.  Pauline brennt durch.
Präsentiert sich die Urlaubsidylle auf Elisabeth Vogetseders Bühne hier als vollverspiegelte Küchenzeile, so liegt die Welt in »Dimensionen« voll in Trümmern, von Schottersteinen und Blechteilen übersät. In Bruchstücken wird uns auch die gruselige Geschichte nahe gebracht,  deren Hintergrund, wie die in Twighlight-Atmosphäre getauchte Bühne lange im Dunkeln bleibt. Doreen (Bohle), die jetzt Fleur heißt, erzählt sie auf der Fahrt im Bus zu ihrem inhaftierten Ex Lloyd (Kahnert). Einem Psychopathen, wie wir bald erfahren, und grausamen Mörder der drei gemeinsamen Kinder. Woher Doreens tiefes Verlangen kommt, das Trauma über den Kontakt mit Lloyd zu lösen, das verrät uns Munro nicht. Sie findet eine andere (Er-)Lösung.

Winnie Geipert (Foto: Bettina Müller)
Termine: 16., 21. November, 19.30 Uhr
 www.staatstheater-wiesbaden.de

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