»Sunset« von László Nemes

Österreich-Ungarn wird im Film gern als prunkvolle Monarchie inszeniert. Prachtvolle Garderoben, schmucke Uniformen und Walzerseligkeit in den beiden Hauptstädten Wien und Budapest. Diese Sicht der Dinge hinterfragt der Ungar László Nemes in seinem Film »Sunset«. Hier ist die Donaumonarchie in ihrer Endphase, also vor Ausbruch des Weltkrieges, der erst im Nachhinein der Erste genannt werden wird, eine hierarchische Gesellschaft, die den Keim ihres Untergangs schon in sich trägt.

Auch in diesem Film geht es ums Repräsentieren, ist doch der angesagteste Hutsalon in Budapest der zentrale Handlungsort. Wie eine Schlafwandlerin betritt eine junge Frau den Laden, setzt sich auf den angebotenen Platz und lässt sich nach ihren Wünschen befragen. Bis sich herausstellt, dass sie nicht wegen eines Hutkaufes, sondern wegen einer freien Stelle gekommen ist.
Bei der Fremden handelt es sich um Iris Leiter. Sie sagt, sie trage den Namen des Geschäftes und das sei der Grund, weshalb sie sich als Hutmacherin bewerbe. Doch der jetzige Inhaber Oskar Brill lehnt sie ab, lässt sich auch durch ihr Angebot, unentgeltlich zu arbeiten, nicht erweichen. Aber Iris lässt nicht locker. Mit aller Macht drängt sie sich auf, denn nur in dem Hutgeschäft Leiter sieht sie eine Chance, mehr über ihre eigene und über die Geschichte ihrer Familie zu erfahren.
Ständig werden Fragen gestellt, von ihr und anderen, und keine der Fragen wird beantwortet. Eine surreale Kommunikation beherrscht den Film. Nur langsam kommt heraus, dass Iris’ Eltern bei einem Brand des Ladens ums Leben gekommen sind und dass ein Mann namens Kalman mit einer kriminellen Vergangenheit vermutlich ihr Bruder ist. Auf der Suche nach ihm kommt Iris an geheime, furchteinflößende Orte.
Sie stößt auf Ablehnung, weil sie an alten Wunden rührt, und gibt trotzdem nicht auf. Als sie sich in einen inneren Zirkel der Macht einschmuggelt, scheint sie sogar ernsthaft bedroht zu werden. Wie in einem Fieberwahn sucht und fragt sie, aber jedes Rätsel, das sie zu lösen scheint, gibt ein neues auf. Der Film ist verschlossen wie ein Wein, den man zu früh geöffnet hat und dessen Potential man nur erahnen kann.
Als ein Stochern im Nebel hat Nemes seine Darstellung dieser Welt vor hundert Jahren inszeniert. Fast in jeder Einstellung ist die großartige Juli Jakab, die Iris verkörpert, im Bild, und oft ist der Hintergrund unscharf. Man erahnt vieles mehr, als dass man es sehen kann. Ein ausgefeilter Ton trägt dazu bei.
Der Film ist auf 35mm- und teilweise sogar auf 65mm-Material gedreht. Ursprünglich war ein Scope-Breitwandformat geplant, Nemes entschied sich aber glücklicherweise für das 1:1,8-Format.
Dabei blieb er auch in seinem zweiten Spielfilm dem reduzierten Stil treu, den er schon für seinen hochgelobten und mit einem Oscar als Bester fremdsprachiger Film geehrten Erstling »Son of Saul« gewählt hatte. Dort war es ein KZ, das er im kargen, schwarzweißen 1:1,3-Format gegen heutige Sehgewohnheiten zeigte, jetzt ist es eine Epoche, die von ihrem Untergang noch nichts weiß, den sie schließlich im Schützengraben finden wird. Nemes geht es darum, unserer Vorstellung von dieser Welt entgegenzutreten, um Platz für neue Erkenntnisse zu schaffen. Und auch darum, die Zerbrechlichkeit der eigenen Zivilisation zu erkennen, die wir aktuell zu ignorieren scheinen. Unserer Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, und so unterscheidet sich »Sunset« fundamental von herkömmlichen Historienfilmen.

Claus Wecker
SUNSET (Napszállta)
von László Nemes, Ungarn 2018, 142 Min.
mit Susanne Wuest, Evelin Dobos, Juli Jakab, Vlad Ivanov, Levente Molnár
Drama
Start: 13.06.2019

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