»Und dann die Tür absperren« – Interview mit der Thriller-Autorin Jeong Yu-jeong

Jeong Yu-jeong ist mit ihren psychologisch ausgefeilten Kriminalromanen eine Bestsellerautorin in Südkorea. Ihr Thriller »Sieben Jahre Nacht« sorgte 2015 im deutschsprachigen Raum für Aufsehen. Jetzt im Januar 2019 erschien »Der gute Sohn«. Jeong Yu-jeong nahm Ende Januar am Kongress »Global Crime« von LitProm in Frankfurt teil. Alf Mayer sprach mit ihr.

Frage: Sie sind Thriller-Autorin. Oder ist das eine Verengung?
Jeong Yu-jeong: Nein gar nicht. Ich denke, es gibt zwei Arten von Roman. Die eine bringt dich zum Nachdenken, die andere verschafft dir Erfahrungen. Romane, die zum Nachdenken bringen, sind philosophisch und eher offen. Für die zweite Art Roman ist es wichtig, dem Leser möglichst nahe zu kommen. Man muss ihn an die Hand nehmen, muss ihn in eine neue, ihm unbekannte Welt führen. Und dann die Tür absperren, damit er nicht entkommen kann. Immer schon wollte ich genau solche Romane schreiben. Bücher, denen man sich nicht entziehen kann. Ich will meine Lesern in eine von mir gestaltete Welt holen und dann zu ihnen sagen: »Das ist es, wie ich die Welt, wie ich die Menschheit und wie ich das Leben sehe. Seht ihr das auch so?«

Warum die Form des Thrillers?
Antwort: Weil der Thriller im Leser die Neugier weckt. Weil er die Leser auf eine Reise schickt. Ich mag auch die Angst. Sie ist etwas Produktives. Ich hoffe, meine Bücher haben etwas von dem aufregenden Gefühl, dass einen gerade etwas Kaltes gestreift hat. Oder dass man das Gefühl hat: Da ist jemand hinter mir.

Sie haben auch im Ausland Erfolg. »Der gute Sohn« erscheint in 18 Ländern. Beeinflusst einen das?
Ich denke nicht an ausländische Leser, wenn ich schreibe. Ich denke nicht einmal an einheimische. Ich erzähle mir selbst eine Geschichte, und ich möchte, dass sie so spannend und »chilly« ist wie nur möglich. Dass einen etwas aus unserem Unbewussten streift, etwas von unserer dunklen Seite, von unserer monströsen.

Sie scheinen eine ziemlich unerschrockene Person zu sein. Zimperlich jedenfalls sind Sie als Autorin nicht. Hat das einen beruflichen Hintergrund?
(Lacht) Ich habe fünf Jahre als Krankenschwester in einer Notaufnahme gearbeitet. Dabei habe ich viel Blut gesehen. Ich denke, dabei hat sich meine Weltsicht ausgeprägt.

Und wie ist die? Kann ich fragen?
Wir leben nah am Tod. Er ist näher als wir denken. Näher, als es uns lieb ist. Aber den Kopf davor in den Sand zu stecken, das hilft nicht. Furcht vor dem Tod ist für mich ein wichtiges Thema. Ich würde ihm  gerne ein wenig mehr Poesie geben. Das Schicksal kann gewalttätig sein, seine Macht kann überwältigen. Aber wir haben auch unseren freien Willen, der zeichnet uns Menschen aus. Auch wenn gerade die koreanische Gesellschaft eher Fügung und Passivität erwartet.

Gibt es eigentlich in Südkorea – Stichwort Donald Trump  – die Angst vor einem Atomkrieg?
Nein. (Schüttelt den Kopf.) Das sind Mediengespinste. Das ist nicht, was die Menschen fühlen. Wir hoffen auf die Wiedervereinigung. Da bin ich optimistisch. Sie in Deutschland haben uns das vorgemacht. Ich war schon zweimal in Berlin, ich habe mir Checkpoint Charlie angeschaut. Da spüre ich Emotionen.

Die spürt man auch beim Lesen ihrer Bücher.
Mich interessiert es sehr, wie es in meinen Figuren aussieht. Wie sie »ticken«, was ihre Psychologie ausmacht. Darauf verwende ich viel Arbeit. Ich will sie glaubwürdig. Ich will sie echt. Ich möchte einfach, dass meine Leser umblättern, dass sie neugierig sind auf das, was auf der nächsten Seite passiert. Und auf der übernächsten. Mir ist es wichtig, dass das Tempo nicht nachlässt. Da muss Bewegung sein. Dauernd. Ich bin Extremsportlerin, in meinen Büchern geht es sozusagen bergauf. Ich schicke meine Leser auf eine nicht ganz gewöhnliche Wanderung. Danach darf man schon etwas erschöpft und gerädert sein. Aber man ist ans Ziel gekommen. Man hat etwas erlebt, das man so noch nicht kannte. Das will ich herstellen.

Wie lange schreiben Sie schon?
Ich bin jetzt zehn Jahre Schriftstellerin, habe fünf Bücher veröffentlicht, sitze an meinem sechsten. Aber Schriftstellerin wollte ich schon mit acht oder neun Jahren werden. Meine Großmutter war Geschichtenerzählerin in einem Zirkus. Ich denke, das habe ich von ihr, dass das Erzählen so sehr Spaß macht. Ich bin zum Beispiel gerne ins Kino gegangen und habe die Geschichten dann Freunden erzählt.

Freundinnen?
(Lacht) Es waren eher Jungs. Ich war sehr wild als Kind. Der Weg zur Extremsportlerin war nicht weit. Boxen, Klettern, Schwimmen, Wandern. Ich war oft im Himalaya. 2014 habe ich darüber ein Buch gemacht. Der Titel ist  sinngemäß »Meine fantastischen Wanderungen im Himalaya«.

Gibt es eine Thriller-Tradition in Korea?
Wir hatten eher 70 Jahre Dunkelheit, es gibt in dieser Hinsicht keine Tradition. Als Autor schreibt man bei uns lieber erst einmal Literarisches, sonst wird man nie ernstgenommen. Ich liebe Thriller. Ich habe immer schon Stephen King gelesen. Wenn jetzt manche Kritiken sagen, ich sei der koreanische Stephen King, ehrt mich das sehr.

Wie arbeiten Sie? Was sind Ihre Methoden?
Sobald ich die Idee für ein Buch habe und ein Exposé schreibe, stürze ich mich in die Recherche. Ich lese Tonnen von Büchern, ich interviewe Leute, ich interessiere mich für Themen. Den Entwurf schreibe ich per Hand, in mein Notizbuch. Allmählich merke ich dann, was mir noch fehlt, und der Prozess geht weiter. Ich setze mich an den Laptop, ich beginne, Szenen zu schreiben. Aber das ist immer noch die Rohfassung. Wenn es davon mehr als zehn Prozent in den Roman schaffen, halte ich ihn für einen Fehlschlag.

Wirklich? Warum denn das?
Ganz einfach. Ich denke, dass das, was mir zuerst einfällt, ziemlich an der Oberfläche meines Bewusstseins liegt. Also nicht dort, wo ich wirklich kreativ bin. Hier lasse ich mir nichts vormachen. Erst wenn die Oberfläche der Anfangsidee abgekratzt ist, kann die wirkliche Geschichte, die sich dort unten vor mir versteckt, nach oben gelangen. Deshalb schreibe ich wieder und wieder um, verwerfe alles, werfe es weg, schreibe alles wieder neu. Das mache ich mehrmals. Sie können auch sagen, bis zur Erschöpfung (lacht). Zuletzt lese ich das Manuskript von hinten her. So kann ich die Löcher in der Geschichte aufspüren. Von all meinen Romanen ist »Der gute Sohn« am weitesten vom Anfangsmanuskript entfernt.

Das ist ja auch ein heftiger Stoff. Ein Sohn, der im Blut seiner toten Mutter aufwacht und sofort der Hauptverdächtige wäre, weshalb er den Fall schnell klären muss – und die ganze Zeit weiß er, oder wissen wir Leser nicht, ob er es nicht doch gewesen ist.
Bei diesem Buch war ich schon etwas in Sorge, dass ich mich selbst zu einer Psychopathin entwickeln könnte. Das ist mir selbst unter die Haut gegangen.

Sie mögen Ray Bradbury, habe ich gelesen.
Oh ja. Seine Phantasie ist ziemlich ungezügelt. Ich mag dieses Zitat aus »Fahrenheit 451«: »Es muss etwas in Büchern geben, das wir uns nicht vorstellen können. Etwas, das eine Frau dazu bringt, in einem Haus weiterzulesen, obwohl es brennt. Man bleibt nicht für nichts sitzen und liest und liest.« – Diese Art Bücher möchte ich schreiben.

Alf Mayer
Jeong Yu-jeong: Der gute Sohn. Thriller. Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel. Unionsverlag, Zürich 2019. 320 Seiten, 16,99 Euro.

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