Von der ersten Liebe – »Frühling in Paris« von Suzanne Lindon

»Ganz Paris träumt von der Liebe, denn dort ist sie ja zu Haus«, sang einst Caterina Valente. Da war Paris längst ein beliebter Schauplatz von Filmen, in denen mehr oder weniger heftig, glücklich oder unglücklich geliebt wurde. Heutzutage eine Romanze in Paris zu drehen, die nicht ein billiger Abklatsch von Hunderten schon gesehener wäre, ist also ein mutiges Unterfangen. Suzanne Lindon, der Tochter des Schauspielerpaars Vincent Lindon und Sandrine Kiberlain, ist dies mit ihrem Spielfilmdebüt bestens gelungen.

Die 16-jährige Suzanne, von der Filmemacherin selbst gespielt, ist ein hochgewachsenes Mauerblümchen. Im Kreis von Gleichaltrigen wirkt sie distanziert und verschlossen. Ihre Altersgenossen langweilen sie, nur am Küchentisch mit den Eltern taut sie etwas auf. Auch wenn ihr Vater (Frédéric Pierrot) mehr mit sich selbst als mit ihr beschäftigt zu sein scheint. Nach seinem persönlichen Geschmack befragt, wird er ihr einen Rat in der Kleidungsfrage »Hose oder Rock« geben – mit dem Ergebnis, dass Suzanne in einem Minirock durch die Stadt schlendert.
Denn sie will einem zwanzig Jahre älteren Mann gefallen, dem sie sich verschämt genähert hat. Raphael (Arnaud Valois) ist Schauspieler in dem kleinen Theater, an dem Suzanne auf ihrem Schulweg vorbeikommt. Er zweifelt im Moment an seinen Schauspielerkünsten. Da kommt ihm die etwas herbe, nicht besonders verführerisch wirkende Suzanne gerade recht. Ihr Problem, der Übergang vom Kind zur erwachsenen Frau mit all den Unsicherheiten, die damit verbunden sind, macht sie für den älteren, aber unsicheren Raphael ausnehmend attraktiv.
An Suzannes scheuen Blicken, ihrem verschämten Lächeln und dem impulsiveren Verhalten daheim ist zu erkennen, dass bei ihr die Hormonproduktion Fahrt aufgenommen hat: Sie hat sich verliebt. Wie Autorin, Regisseurin und Hauptdarstellerin Lindon dieses Erwachen eines jungen Mädchens in ihrem Film schildert, das ist allerdings im heutigen Kino auf einzigartige Weise unspektakulär. Sie orientiert sich nämlich an klassischen Vorbildern.
Zunächst hält sie sich an die Regel der Nouvelle Vague, möglichst nah an der eigenen Erfahrung zu filmen und von dem zu erzählen, was man kennt. »Frühling in Paris« ist deshalb ein wahrhaft autobiographischer Film mit einer überzeugenden, weil sich selbst spielenden Protagonistin.
Auch weiß Lindon, dass Blicke und Gesten in einer behutsamen Romanze fast noch wichtiger sind als mancher Dialog. Der muss vor allem ungekünstelt sein. Die Probenszenen im Theater, in denen Raphaels Unvermögen, mit seiner Rolle klarzukommen, demonstriert werden soll, sind denn auch etwas zu plakativ geraten. Und, um einen weiteren Kritikpunkt zu nennen, das Panavision-Format lässt viel leeren Raum an den Seiten. Ein schmaleres Format wäre dem Thema angemessener gewesen.
Bemerkenswert sind jedoch die Liebesszenen, die ohne expliziten Sex auskommen. Bei ihnen stand der große Romantiker Jacques Demy Pate. Suzannes Solotanz mitten auf der Straße und zwei von Vivaldi-Musik unterlegte Synchronballette mit ihr und Raphael ersetzen die üblichen Sexeinlagen, auf die der Film wie nur wenige heutzutage verzichtet. Etwas Märchenhaftes erhält »Frühling in Paris« dadurch, dass Suzannes erste Liebe einem Mann gilt, der ihr in seiner Zurückhaltung ähnelt. Der Film erzählt eben auch die Geschichte von den zwei einsamen Seelen, die zueinander finden.
Unsensiblen Gemütern mag die 74-minütige Romanze um einiges länger vorkommen. Alle anderen werden sich an eigene Erfahrungen erinnern und vom plötzlichen Ende überrascht sein.

Claus Wecker (Foto: © 2020 Avenue B Productions)
FRÜHLING IN PARIS (Seize printemps)
von Suzanne Lindon, F 2020, 74 Min.
mit S. Lindon, Arnaud Valois, Frédéric Pierrot, Florence Viala
Romanze
Kinostart am 17.06.2021

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