Wartburg Wiesbaden: »Mr. Marmalade«

Mr. Marmalade (Foto: Lena Obst)Kinderblicke in erwachsene Abgründe

Selbst wenn das famose Spiel von Franziska Werner in der Wartburg bis in den letzten Winkel der kleinen Nebenspielstätte des Wiesbadener Staatstheaters entzückt: Ganz, ganz weit nach vorne wünscht man sich unweigerlich, um das unerschöpflich scheinende mimische Potenzial und die Körpersprache der vielseitigen Künstlerin, die an diesem Haus im Repertoire eine zarte, verletzliche »Emilia Galotti« gibt und in der Performance »Kassandra.Sehen« auch tänzerisch begeistert, aus allernächster Nähe zu genießen. Zur Wiesbadener Saisoneröffnung steht Werner als vierjähriges Scheidungskind Lucy im Mittelpunkt von »Mr. Marmalade«.

Das vermeintliche Kinderstück für Erwachsene von Noah Haidle lässt uns ein von der Mutter vernachlässigtes einsames Mädchen erleben, das sich in dieser augenscheinlich den eigenen Vater spiegelnden Person des titelgebenden Mr. Marmalade einen sehr eigentümlichen Partner, Spielfreund und Liebhaber zusammenphantasiert: einen geschniegelten, biederen Angestellten mit Aktenkoffer im grauen Anzug, der ganz wenig Zeit für sie hat, meist fürchterlich missgelaunt ist, seinen Diener Bradley schlägt und obendrein auch noch säuft und kokst. Als sich Lucy mit dem nicht minder einsamen fünf Jahre alten Selbstmordversucher Larry allerdings eine reale Freundschaftsalternative eröffnet, beginnt sich ihre Phantasiewelt heftig und zunächst erfolgreich zu widersetzen. Mit dramatischen Konsequenzen. Dem kurzen eingebildeten Glück folgt Lucys eingebildete Ehehölle.

Gleichwohl der kindliche Wahnwitz sich als reichlich sprudelnde Spaßquelle erweist, macht uns die Inszenierung von Isabel Osthues doch auch stets der tiefen erwachsenen Abgründe gewärtig, aus denen sich die Phantasien dieses kaum geliebten Kindes speisen. Man lacht und weint zugleich, auch weil es offen bleibt, ob Lucy nicht gar ein Opfer körperlicher Gewalt und sexuellen Missbrauchs sein könnte. Gut aber, dass dieses aberböse Stück amerikanisch happy endet auf der von einer riesigen plüschrosa Schaumstofflandschaft okkupierten Bühne. Umso befreiter lassen sich am dadurch noch lange nicht versöhnlichen Ende mit der großen Leistung Werners auch deren kongeniales Kinder-Pendant Larry in Person des Gastspielers Konstantin Lindhorst wie überhaupt ein prächtig arbeitendes Ensemble würdigen: die immergute Doreen Nixdorf als Bradley, Cornelius Schwarm als ein verklemmter Riese Mr. Marmalade und Evelyn Faber als Teeny-Nanny und Mutter. Bei der Premiere fiel das frenetisch aus. Zu Recht. Ein Muss.

Winnie Geipert
Termine: 11., 17., 31. Oktober,
jeweils 20 Uhr
Info: www.staatstheater-wiesbaden.de

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