Warum »Ritchie Girl« von Andreas Pflüger für mich der Roman des Jahres ist

Eigentlich ist dies ein Roman für »Frankfurt liest ein Buch«. Der Buchumschlag zeigt nicht von ungefähr das I.G. Farben Haus im Frankfurter Westend – heute Universität, zugleich Ort deutscher Schuld, dann deutsches Hauptquartier der CIA. Die Stadt und ihr Umfeld im Nachkriegsjahr 1946 sind Hauptschauplatz des Romans »Ritchie Girl«, der folgerichtig mit der Hinrichtung der im Nürnberger Prozess schuldig gesprochenen Naziverbrecher endet.

Am Anfang, gleich im ersten Satz, wird Paula Bloom, die Heldin dieses Buches, von einer gewaltigen Wucht bis ins Mark erschüttert. Eine immense Wasserwand trifft den Bug des Truppentransporters, auf dem sie im letzten Kriegsjahr des Zweiten Weltkriegs nach Europa unterwegs ist. »Diese eine Welle würde sie nie vergessen…«, beginnt der Roman. Es ist mehr als eine Metapher. Die Wucht dieser Meereswelle, die auf eine Haut aus Stahl trifft und alle hinter diesem dicken Panzer bis ins Mark erschüttert, das ist auch die Kraft und Wucht, die in diesem Buch steckt – und alle, die noch ein ein Gewissen haben, ins Herz trifft. Außerdem ist es traumhaft gut geschrieben. »Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns«, forderte Franz Kafka. »Ritchie Girl« leistet das. Es ist, ein Buch, wie es noch keines gab, und endlich der Große Deutsche Schuld Roman – ein weißer Wal wie die »Great American Novel«, der Don DeLillo vielleicht am nächsten gekommen ist mit seinem »Underworld«. Nicht umsonst haben die beiden Autoren Gemeinsamkeiten.
Die Unterwelt bei Pflüger ist der Unterbau unserer westlichen Wertegemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, sind die Machenschaften und Geschäfte beim Aufbau einer neuen Weltordnung, ist die Demaskierung mancher unserer Gründungsmythen – darunter auch die des BND –, ist der Umgang mit den unauslöschlichen zwölf Jahren des Dritten Reiches. »Die zweite Schuld« nannte Ralph Giordano das. »Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945.« Pflüger ist sich hier mit Giordano einig: Die zweite Schuld hat die politische Kultur der Bundesrepublik bis zum heutigen Tag mitgeprägt. In ihrem bitteren Kern: die kalte Amnestie für jede Art von Naziverbrechern, für Blutrichter, fanatische Staatsanwälte, für viel zu viele Repräsentanten des NS-Vernichtungsapparats, Militärs, Diplomaten, Wirtschaftsführer. Die ganze Funktionselite des »Dritten Reichs« war bis Ende der 1950er nahezu lückenlos wieder in die Nachkriegsgesellschaft eingegliedert. Giordano nennt es den »großen Frieden mit den Tätern«. Für ihn war er ein Fundament der bundesdeutschen Staatsexistenz. Unterwelt.
Und Pflüger zeigt, wie es begann. Zeigt die Phase, in der es wirklich eine Stunde Null hätte geben können – und aus Pragmatismus nicht gab. Es geht in seinem Buch um nichts weniger als um unsere deutsche Geschichte und um unser Verhältnis und Verhalten dazu. Heute. Und auch für die kommenden Generationen. All dies verhandelt 1946 – im ersten Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Privat und politisch. Klein und Groß. Unerbittlich. Unbequem. Und vor allem gegen den Strich dessen, mit dem wir uns gemütlich mit Fernsehserien und Filmen, Belletristik, Krimis, Dorfsagas und frivolen Feuilleton-Etüden im schnell halbgelangweilten Umgang mit der Nazizeit und den »spießigen Fünfzigern« eingerichtet haben. Wir Nachgeborenen wissen längst, was damals Sache war und wie wir dazu stehen. Nein danke, Nachhilfe nicht nötig. Wir nehmen dann selber vom Buffet. Zum Beispiel so etwas wie »Stella« von Takis Würger. 200 luftige Seiten, eine Jüdin, die andere Juden bespitzelt und denunziert. Ein Erzähler, der sich darauf etwas einbildet, von all der Politik im Nazi-Berlin keine Ahnung zu haben und keine haben zu wollen. Kurz, etwas mit leicht perverser Ambivalenz, etwas für den Small Talk in gehobenen Kreisen, schnell wieder vergessen. Vergangenheit als schnell schmelzendes Zäpfchen. »Stella« hat 500 Mal mehr Aufmerksamkeit, Aufmacher und Platz in TV, Magazinen und Zeitungen geerntet als »Ritchie Girl«.
Pflügers pralles, unterhaltsames und dabei auch forderndes Buch, 450 Seiten, jeder Satz auf das Maximum ziseliert, ist explizit kein Thriller, sondern ein zeitgeschichtlicher Roman mit (manchmal ätzend) moralischer und philosophischer Tiefe. Dieser Roman macht klar, an welch schlanke »Dramatisierung« und magere Viereinhalb-Personen-TV-Horizonte wir uns gewöhnt haben. Pflüger ist fucking Breitwand. Cinesmascope. Größer als die eigene Westentasche.
Als Pflügers Protagonistin Paula Bloom von jener Welle erschüttert wird, ist sie nach Europa unterwegs, um ihren Anteil am Krieg gegen die Nazis zu leisten. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, in Berlin, als Tochter eines amerikanischen Anwalts, der in den 1920er und 1930er Jahren mit Deutschland und »natürlich« auch mit Nazis und der I.G. Farben Geschäfte machte. Und sie hat einen Deutschen geliebt. Einen, der vielleicht zum Täter wurde, einen, der vielleicht der eine Gerechte blieb. Darüber muss sie Gewissheit haben. Deshalb kommt sie zurück, als ein »Ritchie Girl«, als Besatzungsoffizierin.
Aber, und dies ist Pflügers genialer Kunstgriff, eben nicht einfach als Soldatin, sondern als Angehörige einer Einheit, die – historisch verbürgt – an genau jener Schnittstelle im Einsatz war, die Begegnung, Dialog und Diskurs und eigenmoralischen Umgang mit Hunderten von Nazi-Größen miteinschloss und mit tausendfach durchgeführten Vernehmungen sogar so etwas wie die allererste Bestandsaufnahme der Verbrechen des Naziregimes und auch die Grundlagen für die Nürnberger Prozesse lieferte: den »Ritchie Boys«. Und all das hatte sogar einen archimedischen Punkt, einen Ort, der tatsächlich existiert, an dem Geschichte sich extrem verdichtet hat. Pflüger hat ihn gefunden: Camp King in Oberursel bei Frankfurt – heute ein Wohngebiet mit Taunusluft. Die Anklagen der Nürnberger Prozesse entstanden hier ebenso wie Kogons »Der SS Staat«. Bis auf Göring wurden beinahe alle Nazi-Größen in Oberursel vernommen. Zuvor wurden dort im Durchgangslager Luft (Dulag Luft) unglaubliche 40.000 abgeschossene alliierte Luftwaffenangehörige vernommen und befragt. Nach Kriegsende zog sogleich das Counter Intelligence Corps (CIC) ein, der Nachrichtendienst der U.S.-Armee und Vorläufer der CIA. Unter den »Ritchie Boys«, die in Oberursel ein- und ausgingen, waren viele Emigranten: Hans Habe, Henry Kissinger, Stefan Heym. Georg Kreisler vernahm dort zum Beispiel Julius Streicher, schrieb abends böse Lieder. Mit den Abwehroffizieren Baun und Gehlen entstand aus der »Operation Rusty« der Bundesnachrichtendienst, zunächst als »Organisation Gehlen« bekannt und von den Amerikanern finanziert.
Pflüger ist ein Recherche-Junkie. Alles in »Ritchie Girl« ist penibel recherchiert. Für sein Buch ackerte er sich durch mehr als 250 Bücher und Online-Datenbanken, war in Nürnberg, Frankfurt und mehrfach in Oberursel. Handwerklich kann ihm ohnehin kein anderer Autor das Wasser reichen. Seine Sprache ist bergbachklar, poetisch verdichtet, an Hemingway geschult. Viele Jahre Theater- und Drehbucharbeit haben ihn zu einem begehrten Szenaristen gemacht, seinen Stoff versteht er zu bester Wirkung und Eleganz zu kalibrieren. Humor inklusive. Er kann Tempo und Rhythmus. Dialog. Dramaturgie. Die Materialbeherrschung geht bei ihm soweit, dass er neben Judith Schalansky als wohl einziger deutscher Autor seine Bücher selber setzt und ihr Erscheinungsbild bis in die kleinste Ligatur, also bis ins feinste Schriftbild bestimmt. Und darüber mit einer Typografie-Größe wie Erik Spiekermann fachsimpeln kann.
Nachtragen muss ich noch zu Oberursel: Knappe zehn Straßenbahnkilometer entfernt steht im Frankfurter Westend das von Ernst Poelzig entworfene I.G. Farben-Haus, heute Universitäts-Campus, einst Konzernsitz jener Weltfirma, zu deren Portfolio die Mitarbeit an der Entwicklung der »Gaswagen« gehörte, die Herstellung von Zyklon B und dessen massenindustrieller Einsatz bei der Vernichtung der Juden. Gleich nach Kriegsende zog die amerikanische Militärverwaltung an just diesem Ort ein – ebenso das Hauptquartier der CIA in Deutschland. Paula Bloom trifft dort ihren Mentor Allen W. Dulles und einen jungen Richard Nixon. Dulles, damals im US-Geheimdienst aktiv und bald schon dessen Chef, war wie Paulas Vater für amerikanische Banken mit der I.G. Farben verbandelt. Die Frage, wie viel und ob Gewissen Geld hat, wird vor diesem Hintergrund dekliniert. Auch für die Frage nach Gott und wo er denn in Auschwitz blieb, knüpft Pflüger sinnstiftende Zusammenhänge. Schreibt dazu große Dialoge.
Viele, die ihn als Thriller- oder Tatort-Autor einordnen, wissen vermutlich gar nicht, dass er ein großer Experte der Shoa ist, mit Überlebenden zwei Dokumentarfilme über Auschwitz gemacht hat. Über den nach einem Drehbuch von ihm entstandenen Schlöndorff-Film »Der neunte Tag« (2004) urteilte die FBW: »Ein rundum reifes und intensives Werk, ein sorgfältiger, vielschichtiger Film auf höchstem filmischen und moralischen Niveau… Ohne ein Thesenfilm zu sein, ganz anschaulich, sinnlich, nachvollziehbar stellt der Film die Frage nach dem Gewissen, nach Glauben und nach Schuld.«
Nicht zufällig erschien »Ritchie Girl« im letzten Herbst wenige Tage vor dem 75. Jahrestag der Urteilsverkündung der Nürnberger Prozesse. Wie ein großer Tanker steuern Buch und Protagonistin auf den 30. September und den 1. Oktober 1946 zu. Nach fast einem Jahr Verhandlungsdauer wurden dort im Justizpalast an der Fürther Straße zwölf der 24 Angeklagten zum Tode verurteilt. Paula ist bei den Hinrichtungen dabei.
Durch ihre Augen sehen wir auf ein erkaltetes, zur Trauer unfähiges, der Menschlichkeit fast beraubtes Land – in dem »das Vergessen die Utopie der Stunde« ist (Wolfgang Jähner). Sie sehnt sich danach, »von diesem Gestade fortzusegeln, eine Argonautin auf dem Ozean des großen Vergessens«. Aber ohne Antwort kann sie nicht gehen. »Was hat Deutschland Ihnen angetan, dass Sie sich so mit der Frage quälen, ob Sie je verzeihen können?«, wird sie einmal gefragt.
Niemand von uns – auch heute, 75 Jahre später – kann einfach so leben, als ginge ihn die deutsche Vergangenheit nichts an. Paula Bloom kommt nach Europa, um für sich zu klären, wie sie damit umgehen soll. Sie kennt sechs Millionen Gründe, Deutschland zu hassen. Und ebenso viele, sich selbst zu verachten. »Eines Tages, wer weiß«, so hofft der Frankfurter Wirt Elias im Roman, »werde ich vielleicht einem Deutschen die Hand geben können, ohne zu frieren.«
Wie stehen wir dazu? Das ist die Reise dieses Romans. Das ist die Frage an uns alle. Heute noch. Wie geht das: verzeihen? – heißt es einmal im Buch.

Alf Mayer (Foto: © Stefan Klüter/Suhrkamp Verlag)

 

Andreas Pflüger: Ritchie Girl.
Suhrkamp Verlag 2021. 464 Seiten. 24 €

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert