»Corps de Walk« am Staatstheater Wiesbaden

Sharon Eyal ist mit ihren Werken im Rhein-Main-Gebiet seit einigen Jahren höchst präsent. Mit tanzmainz erarbeitet die Israelin mit der sehr eigenwilligen Bewegungssprache regelmäßig Choreographien. Das gemeinsame »Soul Chain«, das am Staatstheater der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt gerade seine Wiederaufnahme erlebt, wurde nicht nur 2018 mit dem Faust-Theaterpreis ausgezeichnet; es ist in der ganzen Welt begehrt.
Nun zeigt das benachbarte Hessische Staatsballett im Großen Haus in Wiesbaden und ab November in Darmstadt ein früheres Stück der Bewegungsschöpferin, das sie und Direktor Bruno Heynderickx persönlich verbindet. Der Belgier hatte es 2011 für die norwegische Kompanie Carte Blanche in Auftrag gegeben, als deren künstlerischer Leiter er damals tätig war. »Corps de Walk«, so der Titel des Abends, den die ehemalige Tänzerin der Batsheva Dance Company zusammen mit ihrem Partner Gai Behar kreierte, ist abgeleitet von »Corps de Ballet«, was gleichzeitig den Körper eines einzelnen Tänzers wie die Gesamtheit eines Ensembles bezeichnen kann. Das Gehen als grundlegende Fortbewegungsform findet sich darin in unzähligen Varianten, marschierend, staksend, schleichend. Dazu rucken die Köpfe, zucken die Extremitäten der androgynen Wesen, in die sich zwölf Tänzer*innen der Truppe verwandelt haben. Eng anliegende, hautfarbene Ganzkörpertrikots, die nichts vergeben, entmenschlichen sie. Die Anfangsszene, zu der sie zu Vogelzwitschern und anderen Geräuschen der Natur sich in einer Art Frühlingsreigen aus der Dunkelheit herauskristallisieren, führt in die Irre. Hier gibt es keine Freiheit, kein Entrinnen.
Die elektronischen Klänge von Ori Lichtik hämmern sich in die Körper, treiben sie an, nach einem unfassbar detailreich ausgeklügelten System. Kantige, mit parallel ausgestreckten oder stark angewinkelten Armen vollführte Gesten und die Synchronität der einzelnen Tritte lassen an Roboter denken. Dann schleicht sich Weiches ein. Hüften schieben sich ulkig nach vorne, Wellen durchfluten die Oberkörper. Und schon herrscht wieder Zackigkeit.
Einzelne Ausreißer durchbrechen die Gleichförmigkeit. Da schiebt sich ein Kopf aus der Masse heraus keck nach oben, bleibt jemand stehen oder liegen, um kurz darauf wieder eingesogen zu werden in dieses rauschhafte Exerzieren. Wie zufällig bilden sich kleine Grüppchen, die bald wieder aufgehen im großen Ganzen. Das mechanisch Steife durchbrechen Übungen, die man von der klassischen Schweißarbeit im Ballettsaal kennt: Da kreisen Beine im Halbrund wie beim täglichen Ritual an der Stange, schaukeln sich die Tänzer*innen gegenseitig in der Arabesque hoch. Muntere Hüpfer, folkloristische Motive lockern auf.
Das Publikum wird wieder einmal in den Bann gezogen, eine knappe Stunde lang. Doch obwohl die beeindruckende Fülle an Ideen sich in einer scheinbar unaufhaltsamen Lawine immer weiter über die kahle Bühne ergießt, die Ausführenden mit Exaktheit glänzen, verliert sich die betörende Wirkung irgendwann. Als das Geschehen schon eine Weile auf der Stelle tritt, finden sich die Performer*innen wieder zur anfänglichen Einheit zusammen, und die Finsternis verschluckt sie. Die Premierenzuschauer zeigen sich hingerissen und begeistert.

Katja Sturm / Foto: © Sinah Osner
Termine: 5. Oktober, 16 Uhr; 16., 18., 22., 31. Oktober, 19.30 Uhr
www.staatstheater-wiesbaden.de

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