Die Mainzer Dreigroschenoper wird mit großartiger Musik als Panoptikum serviert

Nanu, so hell und bunt? Anders als viele ihrer düsteren, seelenfinsteren Vorgänger führt Jan Neumanns Inszenierung der »Dreigroschenoper« im Großen Haus des Mainzer Staatstheaters in den auch wörtlich zu nehmenden gesellschaftlichen Untergrund. In leuchtendes Orange getaucht ist der geschwungene Eingang eines U-Bahnhofs (Bühne: Cary Gayler) zu sehen, an dessen Wänden »Brot für die Welt« und »Ikea« einträchtig für Spenden und Hygge, für Mit- und Wohlgefühl werben. Eine Stimmungsmelange, die bestens zu diesem Stück passt. Dank Kurt Weills Musik und bitterböser Texte löst Bertolt Brechts tiefschwarze Kapitalismus-Satire aus dem Jahr 1928 von jeher mehr Entzücken als Erkenntnis beim Publikum aus. Das ist auch in Mainz nicht anders. Kapitalismus ist schließlich noch immer und überall.
Kaum haben sich die Saaltüren geschlossen und ein wie von der Straße geholter Tippelbruder in brechtscher Diktion den ersten Akt angekündigt, fluten rund zwanzig weitgehend alltäglich gekleidete Zeitgenossen mit Einkaufstüten, Rollkoffern und Aktentaschen die Bühne. Dicht an dicht, zum Rushhour-Stillleben erstarrt, werden die Öffi-Nutzer zu Skulpturen, zwischen die sich – zu den ersten Takten des in Kleinbesetzung (sieben Musiker mit 25 Instrumenten) spielenden Philharmonischen Staatsorchesters – der schon erwähnte Obdachlose (Anika Baumann) mit Bettelbecher drängt, um die schauerliche Moritat von Mackie Messer zu singen. Elend und Verbrechen – Messermord, Femizid, Vergewaltigung, Brandstiftung –, von denen sie erzählt, sind mitten unter uns. Botschaft verstanden.
Brechts sozial zugespitzte Typisierung des Stückpersonals hat Neumann durch eine Maskerade aus der Comics- und Popart-Welt ersetzt – im Programmheft verweist er auf Roy Lichtenstein. Aufgemalte Grimassen, schrille Perücken und zirkusreife Kostüme von Nini von Selzam versetzen die Figuren fast in die Nähe der Mainzer Fastnacht. Polly (Maren Schwier) als Nina Hagen, Lucy (Liudmila Maytak) irgendwo zwischen Shirley MacLaines Irma und Uma Thurmans Mia, Macheath (Henner Momann) als Dandy im Edelgauner-Design: jede und jeder ein Hingucker in diesem Panoptikum, womöglich gar ein Zitat.
Wie gehabt fungiert auch in Mainz die fürchterlich konstruierte Handlung des Stücks wesentlich als Bindeglied von Song zu Song. Die amourösen Ambitionen des toxischen Titelhelden, das zynische Gebaren des Bettlerfürsten Peachum (Holger Kraft) und die Intrigen beider mit dem recht albern angelegten Polizeichef Tiger-Brown (Denis Larisch) amüsieren, aber fesseln uns so wenig wie die Eifersüchteleien von Polly und Lucy, den Töchtern von Peachum und Brown.
Zusammen mit Verena Tönjes in der Rolle der Spelunkenjenny stammen Letztere aus der Gesangssparte des Staatstheaters. Ihre Auftritte bilden mit der präzise intonierten Musik unter Leitung von Kapellmeister Samuel Hogarth das eigentliche Vergnügen einer knapp dreistündigen tollen Bühnenschau. Auf der Schauspielerseite gefallen in einem putzmunter aufspielenden Ensemble vor allem David T. Meyer und Anika Baumann in wechselnden (Neben)Rollen, während Stephanie Kämmers Peachum-Gattin als schlagkräftige Krawallschachtel Geschmackssache bleibt – wie manches andere an dieser stark auf Optik getrimmten Schau. So deutlich wie die Bildsprache hätte man sich indes nicht nur bei den Songs die Artikulation der Darsteller gewünscht. Doch bessert sich das, als hätte es eine Halbzeitstandpauke gegeben, merklich nach der Pause.
Musik meisterlich, Gesang in hohem Maße gelungen und das Spiel ein überbordendes Spektakel: Brecht/Weill bleibt Brecht/Weill und Neumanns »Dreigroschenoper« eine unbedingte Ansichtssache.

Winnie Geipert / Foto: © Andreas Etter
Termine: 2. November, 15 Uhr; 9. November, 18 Uhr
www.staatstheater-mainz.com

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert