Vor mehr als zwanzig Jahren hatte Michael Quast Jacques Offenbachs Buffo-Oper »Orpheus in der Unterwelt« ganz allein mit dem Pianisten Rhodri Britton gespielt – diesmal nun geht es um »Die schöne Helena« an der Frankfurter Volksbühne, und das Bild ist ein ganz anderes: Noch niemals zuvor vermutlich, so der Gründer in seiner üblichen Vorrede vor dem Vorhang, hätten derart viele Mitwirkende auf dieser Bühne gestanden. Mit der Opulenz eines großen Orchesters und ebensolchem Chor indes kann das ein privates Haus wie jenes im Großen Hirschgraben selbstredend nicht aufwarten, aus gerade mal sechs Musiker*innen besteht das Instrumentalensemble unter der wechselnden Leitung von (bei der Premiere) Britton und Markus Neumeyer, der Chor zählt mit den Schauspielern Ulrike Kinbach und Gabriel Spagna nicht mehr als zwei Köpfe.
Komödiantischer Charme und Originalität – das sind die Qualitäten, die die Volksbühne in einer Weise auszuspielen weiß, die man ohne einen schalen Beigeschmack bewährt nennen kann. Karg die Bühne, pointiert die Kostüme. So trägt das die Handlung vorantreibende und kommentierende Chorduo Kapitelle als Kopfbedeckungen. In einer unaufdringlichen Manier wartet die frei dem Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy folgende – hochdeutsche, nicht mundartliche – Textfassung von Rainer Dachselt und Michael Quast – der gemeinsam mit Sarah Groß Regie geführt hat und obendrein als Spartanerkönig Menelaos brilliert, ohne dass alles auf ihn ausgerichtet wäre – mit Dingen aus der zeitgenössischen Welt des Computerzeitalters auf. Da ist die Rede von der Frage des Umgangs mit Kürzungen im Städtischen Kulturetat, eine zeitgemäße Bemerkung zum »männlichen Rollenverhalten« bleibt anspielungshaft. Was auf praktisch alles zutrifft. Bei diesem etatmäßig-vorgeblichen »Weihnachtsmärchen« (Premiere Anfang Dezember), das vielmehr prächtig für die Silvestervorstellung taugt, geht es nun einmal in erster Linie um Unterhaltung – die in einer indirekten Offenbachtreue mit einem leichthändigen Spott gewürzt ist.
Kalchas, Tempelpriester des Jupiters, verzeichnet ganz wirtschaftsdeutsch einen schmerzlichen Rückgang der Opfergaben, der erfolgreichen Konkurrenz durch Venus geschuldet. Hilft alle larmoyante Klage nichts. Seniler Gatte, attraktiver Verehrer, erwischt in flagranti, Flucht des Paris und Entführung der Holden – der Hintergrund der Trojanischen Kriege gibt kaum mehr als ein historisches Kolorit ab.
Operette für Schauspieler – da geht es anders als an den Opernhäusern nicht primär darum, schön zu tönen. Selbst die als Sängerin ausgebildete Ingrid El Sigai enthält sich eines Agierens mit einer opernhaften Übergröße zugunsten eines liedhaften Vortrags; sie ist es, der im Sehnen nach Paris und überhaupt einem weniger tristen Leben als an der Seite des ältlich-tumben Menelaos zuallererst die lyrischen Momente zukommen; im Rest des Ensembles gehen Pointierung und komödiantische Drastik vor. Paris Verzücktheit von Helena ist von einem derart offen handfest-donjuanesk selbstgewissen »Habenwollen« – »Früher oder später krieg ich dich« geprägt, dass die Rollenzeichnung – eine ganz andere wäre natürlich vorstellbar – dem Lyrischen Grenzen setzt. Der Menelaos von Quast hat eine lange Leitung, El Sigais Helena ist von einer Spieglein-an-der-Wand-artigen Eitelkeit getrieben. Als Menelaos vor der Zeit von Kreta zurückkehrt und sie mit Paris im Bett ertappt, ist er ihrer selbstbewusst verfochtenen Logik nach selber schuld – hätte ein Mann von Welt doch sein Kommen zeitig angekündigt.
Ein paar Widerhaken mehr hätten der Aufführung gewiss gut angestanden, mäkeln will man angesichts dieses im höchsten Maße spritzig unterhaltsamen Abends samt einem subtil differenzierten wie auch im Vortrag der Arien derb zupackenden Musizieren samt in ihrer Turbulenz herrlich ausgespielten Ensembles gleichwohl nicht – es würde der Sache nicht gerecht werden. Tiefer gründeln mag man andernorts.
»Die schöne Helena« in der Volksbühne