Das Faust‘sche Gretchen alias Susanne Margaretha Brandt als Cold Case, ungelösten Fall zu bezeichnen, ist ein Knaller. Und weist auf die Bedeutung hin, die Lotte Schubert und der Musiker Thorsten Drücker alias Smilla Zorn & Awesome Universe ihrer Annäherung an die junge Kindsmörderin zumessen. Lotte Schubert, die eine umwerfende Interpretation des Gretchen in der Erfolgsinszenierung des »Faust« der vergangenen Saison hingelegt hat. Diesem jungen Mädchen, Kind fast noch, widmet sie jetzt einen musikalischen Abend, der nicht nur die Recherche zum Fall offenlegt, sondern sie in Verbindung zu heutigen Debatten setzt. Gretchen sieht sie nicht als episoden-garnierendes, benutztes und dann weggeworfenes Spielzeug des großen alten weißen Mannes Faust auf seinem Weg in die Unsterblichkeit, sondern reiht es ein in ein unaufhörlich sich repetierendes Perpetuum, dem Perpetuum der Misogynie, der Entwertung, des Totschlags, des Mordes, der angemaßten Macht, der Verachtung, des Hohns, der Manosphere des Andrew Tate. Das sind keine Statements des ausgehenden 18. Jahrhunderts (der Fall ereignete sich im Jahr 1772), das sind Statements gültig bis zum heutigen Tag, die eine von Männern dominierte Herrschaft füttern – und die dieser Abend sezieren wird.
Denn der Fall der Susanna Margaretha Brandt, der Johann Wolfgang von Goethe zu seinem Gretchen inspirierte, ist ja alles andere als ungelöst. Man hat ihn gelöst: durch eine öffentliche Hinrichtung. Ein holländischer Goldschmiedegeselle, der auf Marktbesuch war, hat der jungen Schankmagd Susanna »mehrere Gläser Wein zu trinken gegeben, sie aufs Bett gezerret, und daselbsten Unzucht mit ihr getrieben, und wäre es nicht anders gewesen, als ob er ihr etwas in den Wein gethan«, wird aus den Gerichtsakten zitiert. Ihre Schwangerschaft will sie nicht bemerkt, das Kind als Sturzgeburt auf die Welt gebracht haben. Die Wunden am Kopf des Babys deutet das Gericht als Mord, Susanna Margaretha Brandt will dem Kind nichts getan haben, es sei aus ihr herausgetrieben. Später bettet sie es auf Stroh im Stall und flieht. Von der eigenen Schwester verraten, wird sie festgenommen und verhaftet. Auf Kindesmord steht Tod auf dem Schafott.
Welch immenser gesellschaftlicher Druck muss auf den Frauen damals gelastet haben? Die bürgerliche Gesellschaft hielt zwei Rollen bereit: die ehrbare Ehefrau, Mutter, die den Status ihres Gatten genießt, oder die Unverheiratete, Arme, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen muss – so eine war SMB. Freiwild. Und in eine ungeheure innere Not gestürzt von Machtverhältnissen, die zu gestalten ausschließlich Männern zustand.
Aber wir sind jetzt nicht bei Goethe. Die Inszenierung katapultiert uns gleich in die Aktualität. Das erste Bild hinter einem feinen Schleier: Beamte sichern Spuren in einer Bar, wischen, prüfen, packen ein. In den Wein getan? K.o.-Tropfen? Die Videos an der Rückwand projizieren Bilder von Frankfurt, Hauptwache, Rolltreppen, Skyline, »Four«, Baustellen. Lotte Schubert und Thorsten Drücker krabbeln aus dem Unterboden auf die mit Musikinstrumenten und Pappkartons vollgestellte Bühne (Kaethe Olt). Ein Schlagzeug in einer gekachelten Kammer am hinteren Bühnenrand. Der Boden übersät mit (Akten-)Papier.
Die fabulöse und sehr charmante Punk-Femme-Fatale Lotte Schubert und der Multi-Musiker Thorsten Drücker entwickeln in ihren neun Songs einen Gegen-Erzählstrang, der lose auf den ersten Bezug nimmt. Gesungen wird auf Englisch (die Songtexte kann man sich auf der Website des Schauspiels herunterladen, die Musik angehört werden) und zwar auch von unerfüllter Liebe, von Verlassenwerden, von Wut über Verrat, von Missbrauch, von Träumen, vom Verhältnis eines älteren Mannes, der eine junge Frau ausnutzt, von Zigaretten und Sehnsucht. Die Lieder sind poetisch, zart, laut, dunkel, eine Mischung aus Pop, Indie und Punk. Die Performance zart und wild, wütend und raumgreifend. »Ich war dein High, das war mein Verlust. Hat es deine Neugier befriedigt? Ist es das, was ein Mann tut? Ist es das, was ein Mann tut? Ist es das, was ein Mann tut?« Könnte sich das auch Susanna Margaretha gefragt haben, wenn sie heute gelebt hätte? Dazwischen spricht Schubert originale Texte aus dem Gerichtsverfahren, rekapituliert in einer Art vergewisserndem Dialog mit Drücker den Ablauf der Ereignisse um SMB. Rahmendes Videomaterial: Demonstrationen gegen den Paragraphen 218, ein Wahlplakat von Friedrich Merz.
Sanft ist der Faden, den die Inszenierung dem Publikum zum Weiterspinnen überlässt: Lotte Schubert und Thorsten Drücker ziehen zum Abschluss hinaus ins Foyer, öffnen die Geschichte zum Diskurs. Jetzt sind wir dran: wie viele junge Mädchen und Frauen werden in Bars mit k.o.-Tropfen traktiert, vergewaltigt, wie viele fühlen sich in ihrer Liebe verraten, weil der Mann einfach weiter zieht, auch wenn man sein Kind erwartet, wie viele werden abschätzig behandelt, wie viele? Man muss darüber nicht nachdenken, aber man kann, sollte, dürfte.
»Cold Case – Gretchen brennt« im Kammerspiel Frankfurt