Die Anatomie der Fragilität – eine blickheischende Ausstellung über Körperbilder im Kunstverein

Wir sind einen weiten Weg gegangen, einen ganz weiten. Körperbilder haben sich über die Jahrtausende hinweg drastisch gewandelt, wurden Regeln unterworfen, idealisiert, der Körper mit Scham bedeckt, verhüllt, entblößt, erneut verhüllt, erneut entblößt.
Den Körper nicht als Privatangelegenheit zu betrachten, sondern als Arena von Weltbildern und Wertesystemen, hat sich der Kunstverein jetzt vorgenommen und schlägt dafür wie so oft eine Brücke zwischen Kunst und Wissenschaft. Er zeigt, welchen politischen Einflussnahmen Körperbilder unterworfen sind: Von der makellosen, sanft lächelnden griechischen Statue über etruskische Terracotta-Votivgaben, die Geschlechtsteile zeigen, den unglaublichen Anatomie-Skulpturen von 1782 aus den Sammlungen »Luigi Cattaneo« in Bologna bis zu den äußerst intimen Hautbildern der venezianischen Malerin Chiara Enzo (*1989) und den explodierenden Wandobjekten aus Wachs und Silikon, deren Grundlage Bilder chirurgischer Eingriffe sind, von Agnes Questionmark (*1995), die in ihrer raumfüllenden Installation auch poetische Wasserwesen-Skulpturen aus Glas zeigt.
Und sie zeigt auch, wie Körperbilder durch ihre binäre Festlegung auf Mann – Frau, gesund – krank, jung – alt gesellschaftlich definiert wurden und werden. Um diese sich verschiebenden Grenzen sind in jüngster Zeit, so die Leiterin des Museums Franziska Nori, erneut Kriege entbrannt.
Eine solche Ausstellung, wie der Kunstverein sie jetzt in Kooperation mit der Goethe-Universität in Frankfurt, der Justus-Liebig-Universität in Gießen und dem Museum Palazzo Poggi in Bologna komponiert hat, kann nie vollständig sein, sie kann aber in ihrer bekennenden Fragmentierung Gedanken anstoßen, Vergleiche ziehen und in ihrem stürmischen Gang durch die Geschichte eines vom Betrachter einfordern: genau hinzusehen. Die Augenreize sind gewaltig, das beginnt schon im Prolog im Foyer des Museums. Die Kroisos-Kouros-Statue aus der archaisch-griechischen Epoche (530 v. Chr.) ist eine zwei Meter hohe, männliche Figur von einer solch strahlenden maskulinen Schönheit, dass sie – an einem Gräberfeld stand. Solche Statuen mit idealisierten Körpern wurden für jung Verstorbene gewählt, praktisch als »Ersatzkörper« für ein nicht geführtes Leben. Die weiblichen Pendants übrigens waren nicht nackt, sondern bekleidet. Die Statue ist eine Leihgabe der Antikensammlung der Goethe-Universität.
Im ersten Stock dann das krasse Gegenteil: Sophie de Oliveira Barata (*1982) definiert Prothesen neu. Für sie sind sie keine verhüllenden Hilfsmittel für amputierte Gliedmaßen, sondern künstlerische Erweiterungen der eigenen Persönlichkeit, ein Schmuck, ein Statement. In einer Vitrine lagern kostbar schöne Armprothesen, gefertigt aus vergoldetem Metall, Harz, Bronze, Wolle, Gold, Moos, Öl und Kork. Fotos, Zeichnungen und Videos der Designerin, Künstlerin und Prothetikerin bedecken eine ganze Wand und zeigen wie sie ihr Anliegen, das »Alternative Limb Project« versteht. Die scheinbar Unfertigen, die ohne Arm, ohne Bein, ohne Fuß, die nicht der Norm entsprechen, präsentieren sich als stolze, schöne, selbstgewisse Models mit ihren skulpturalen Prothesen.
Die Südkoreanerin Yein Lee (*1988) erforscht ausgesprochen blickheischend mit ihren lebensgroßen Skulpturen die Grenzen zwischen Mensch und Roboter, »the body in transit«, aber auch die antiken Metamorphosen, in denen sich Daphne als Baum verwandelt oder der Junge Namu Doryeong, der Sohn einer himmlischen Fee und eines Baumes, eine große Sintflut übersteht und von dem der südkoreanischen Legende zufolge die Menschheit hervorgeht. Unter der polierten, stark fragmentierten und vielfach geborstenen Oberfläche ihrer Menschenkörper winden sich Kabel, Computerteile, Stahlrohre, Drähte.
Hingegossen liegt sie da wie eine Ophelia nach einem Liebesakt, tot, aber mit einem schimmernden Collier aus Goldperlen um den Hals und einem echten blondglänzenden Zopf bis über die Brust – wenn da eine Brust wäre. Ihr Körper aber ist bis zum Schambein aufgeschnitten, aufgeklappt, die gesamte Mitte drastisch entblößt, die Eingeweide daneben drapiert, und das mit akribischer Präzision. Als Studie für Medizinstudenten wurde sie 1782 in den Florentiner Werkstätten von Clemente Michelangelo Susini aus Wachs geschaffen, damit diese nicht an toten Körpern ihre Forschungen betreiben mussten, von den Organen konnte man damals nicht immer die Funktion bestimmen. Von Papst Benedikt XIV. ist aus dem Jahr 1742 überliefert, dass er persönlich Künstler mit den ersten lebensgroßen Wachsplastiken beauftragte. Diese Schöne, Venerina, kleine Venus genannt, starb an einem Herzleiden. Und sie ist beliebe nicht die letzte Überrumpelung, die in dem sehr offen aufgebauten Rundgang auf die Besucher*innen wartet!

Susanne Asal
Foto: Clemente Susini, Venerina (Liegende weibliche Figur mit abnehmbaren anatomischen Teilen),
18. Jh. (ca. 1782), Ausstellungsansicht Frankfurter Kunstverein 2025,
Photo: Norbert Miguletz, ©Frankfurter Kunstverein,
Courtesy: Alma Mater Studiorum – Universität Bologna | Museales System der Universität | Museum Palazzo Poggi
Bis 1. März 2026: Di.–So., 11–19 Uhr, Do., 11–21 Uhr,
www.fkv.de

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