Du hast keine Chance, aber … – Édouard Louis legt den dritten Band seiner Familiengeschichte, »Der Absturz«, vor

Es wirkt, nicht nur auf den ersten Blick, wie eine Geschichte aus längst vergangenen Zeiten, wie ein Sozialdrama aus dem 19. Jahrhundert. Aber Louis beschreibt, ähnlich wie Annie Ernaux, doch viel drastischer, eine Klassengesellschaft, die nach wie vor ihre Opfer fordert. Arme Schweine, die nie eine Chance hatten. Schreckliche Familienverhältnisse. Louis selbst hat sich, anders als sein Bruder, aus diesen Verhältnissen befreien können, auch durch sein Schreiben. Und dieser Prozess erzeugt, geradezu wundersam, eine erstaunliche Faszination.

»Als ich vom Tod meines Bruders erfuhr, empfand ich nichts; weder Traurigkeit noch Verzweiflung noch Erleichterung noch Freude. Ich nahm die Nachricht auf wie den Wetterbericht.« Der Ich-Erzähler hatte von seinem neun Jahre älteren Bruder viele Jahre lang nichts mehr gehört. Bis man den Bruder tot in seiner Wohnung fand. Er wurde nur achtunddreißig Jahre alt. Louis großer Bruder und eine Schwester sind aus der ersten Ehe der Mutter. Sie hatte sich von dem prügelnden und trinkenden Mann bald getrennt. Aber auch der zweite Mann, mit dem sie zwei weitere Söhne hat, darunter Édouard, ist gewalttätig und trinkt. Der Vater litt unter der Armut und der harten Arbeit in der Fabrik, die Mutter litt unter seiner Brutalität und gab sie an die Kinder weiter. In Rückblenden erleben wir schlimmste familiäre Verhältnisse, geprägt durch Gewalt, Armut, Alkohol-und Spielsucht.
Der namenlose große Bruder ist schon als Jugendlicher auffällig, er schwänzt die Schule, trinkt und wird straffällig. Immer hat er das Gefühl, zu kurz zu kommen. Das Gefühl, dass sich keiner um ihn kümmert, dass ihm keiner zuhört. Bereits mit achtzehn verlässt er das Elternhaus endgültig, wohnt bei einem Freund. Er war sicher, mit Hilfe seiner Freunde »werde er sein Leben in den Griff bekommen«. Aber mit zwanzig ist er plötzlich wieder da. Großspurig erzählt er von seiner »verheißungsvollen Zukunft« als Metzgersgeselle. Er wird bald der beste Metzger in der Gegend sein, wird Erfolg haben, ausgezeichnet werden. Sein Größenwahn steht in krassem Gegensatz zu seinem realen, und zwar totalen Scheitern.
Louis, der offen zu seiner Homosexualität steht, wird deshalb von dem großen Bruder verachtet. »Wenn ich den kleinen Bruder wiedersehe, poliere ich ihm erst mal die Fresse, dann können wir normal miteinander reden.« So kaputt und zerstört dieser »große Bruder« war, so schwang er sich doch »gern zum Kämpfer für Recht und Gesetz auf.«
Louis selbst rettet sich aus diesen schwierigen Verhältnissen nur, indem er über sie schreibt. Dabei ist er hin-und hergerissen, der Blick auf die Familie und besonders den Bruder ist sehr ambivalent. »Meinen Bruder kennenzulernen, bedeutete, ihn zu hassen.« Ihm ist klar, dass Alkohol und Gewalt, keine bloßen Begleitumstände eines schlimmen Lebens sind, sondern Umstände, die das gesamte Leben prägen und einen bis zum Ende verfolgen. »Ab welchem Moment wird aus Handlungen ein Schicksal? Bis zu welchem Moment hätte jemand, zum Beispiel meine Eltern, die Richtung beeinflussen können, die sein Leben nahm? Ab wann ist es zu spät?« Louis selbst, einerseits Betroffener, dann Beobachter, muss zusehen, wie der lebensunfähige, schwache Bruder, sich selbst belügt, sich einredet, irgendwann zu Geld zu kommen, durch Erbschaft, einen Lottogewinn oder einen gut bezahlten Traumjob. Tagträume sind die einzigen Befriedigungen, die er sich schaffen kann. Selbst sein Tod wirft dann die Frage auf, wie man mit den Beerdigungskosten umgehen soll, denn »es gibt doch Hilfe vom Amt«. Die Schwester ist empört über ein solches Ansinnen. »Willst du etwa, dass er verscharrt wird wie ein Hund?« Es sei doch sinnlos, Geld für einen Toten auszugeben. Louis beschreibt die Verhältnisse, in denen auch er aufgewachsen ist, mit messerscharfer Genauigkeit. »Du hast keine Chance, aber nutze sie.« – so hieß es einst bei Herbert Achternbusch. Louis geht weiter. Bei ihm heißt »aber«, es gibt auch keine.
Wenn man das liest, fragt man sich, durchaus zu Recht, warum man eine solche, eher schreckliche Geschichte lesen soll. Wenn man das Buch gelesen hat, fragt man sich, wie man auf diese dumme Frage überhaupt kommen konnte.

Sigrid Lüdke-Haertel / Foto: © Christian Werner
Édouard Louis: Der Absturz. Roman.
Aus dem Französischen von Sonja Finck, 222 S., 24 €

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