»Henriette und Guido« von Stella Tinbergen

Wenn es so etwas gibt wie ein Genre des Behinderten- oder Außenseiterportraits in Fiktion und mehr noch im Dokumentarfilm, dann hat es, sieht man von der Ur-Aufgabe des Filmischen, uns zu berühren und dorthin zu führen, wo man noch nie war, drei Hauptmotive. Das erste ist die kritische Frage an die Gesellschaft, was den Umgang mit Menschen angeht, die so oder so nicht der Norm entsprechen, das zweite ist eine persönliche Nähe zu diesen Menschen, die immer so viel mehr sind als die Probleme, die sie haben und die sie bereiten mögen, ein Verstehen vielleicht, das Solidarität ermöglicht, und das Dritte ist, weil Nummer eins und Nummer zwei sonst nur schwer auszuhalten wären, eine Aussicht im Prinzip Hoffnung, ein gemeinsamer Lichtblick (und hier heißt es, sich vor Kitsch oder anderen Formen der Unwahrhaftigkeit zu hüten).

Der Film »Henriette und Guido« findet genau das richtige Maß zwischen dem cineastischen Zugriff und der immer auch notwendigen Zurückhaltung. Der Humanismus eines solchen Filmes liegt in der Funktion der Protagonisten. Es ist kein Film über Henriette und Guido, es ist ein Film mit Henriette und Guido. Darum beginnt er auch mit der Liebesgeschichte zwischen ihnen. Immerhin nach einer Frage, die Henriette sich selber ebenso wie an uns, die Zuschauer richtet: Wenn sie ihre Geschichte erzählt, wenn sie sich im Alltag filmen lässt, bedeutet das, mehr Respekt und Verständnis zu erzeugen, oder provoziert es noch mehr Ablehnung und Mobbing?
Henriette wurde mit einem Hirnschaden geboren, aber für ihre Schwierigkeiten mit der Umwelt sind möglicherweise das Trauma der frühen Trennung von der Mutter und die Behandlung in verschiedenen Heimen noch mehr verantwortlich. Sie kann jedenfalls sehr aggressiv sein, auch wenn die Anlässe dafür oft schwer nachvollziehbar sind, und dann hat sie auch wieder etwas Engelhaftes; sie ist, wie Guido sagt, wie eine emotionale »Wundertüte«. Wir begleiten Henriette bei Besuchen bei ihrer Mutter, in Musik- und Tanztherapie, beim Fernunterricht und auch auf die Polizeiwache, wo sie einmal mehr nach Auseinandersetzungen gelandet ist. Der geduldige Guido, von dessen Familiengeschichte mit Alkoholismus, Gewalt und Selbstmord wir nur Bruchstücke erfahren, bleibt im Film, wie vermutlich auch im Leben, eher im Hintergrund. Aber wir sehen durchaus, dass auch er um seine Würde und seine Selbstbestimmung zu kämpfen hat.
Seit kurzem, und nicht allein wegen eines Filmes zum Thema, nennt man Menschen wie Henriette »Systemsprenger«. Die üblichen sozialen und psychiatrischen Institutionen und ihre Methoden gelangen da an ihre Grenzen. Aber auch für die Menschen, die es gut mit ihr meinen, die Mutter, die Therapeutinnen, der Lehrer, sogar die Polizistinnen, die Henriette gewiss nicht wie eine gewöhnliche Querulantin behandeln wollen, aber eben doch auch ihre Vorschriften haben, gibt es immer wieder Grenzen der Belastbarkeit. Dass sie ausgeweitet und abgefedert sind, jedenfalls im Vergleich zur Zeit von Henriettes und Guidos Kindheit, das ist schon ein Trostschimmer. Auch die Mutter kann nun mit ihren Schuldgefühlen anders umgehen als einst. Nicht nur Henriette, auch die Gesellschaft macht Fortschritte. Vielleicht.
Die Regisseurin Stella Tinbergen hat sich schon mehrfach mit psychischen Krankheiten in Filmen und Installationen befasst und dabei einen, auch persönlich motivierten Zugang gefunden. »Siegfried – Mein schizophrener Bruder« und »Siegfried – Stimmen in meinem Kopf« (beide 1997) sowie »Siegfried – Geister, die ich rief« (2005) beschreiben den Leidensweg ihres Bruders, der mit 16 Jahren in die Psychiatrie kam, wo er kaum therapeutisch behandelt, sondern hauptsächlich ruhig gestellt wurde. Erst mit 40 gelingt ihm mit der Hilfe der Schwester eine vorsichtige Lösung in ein selbstbestimmteres Leben. Dass sie sich’s nicht leicht macht, zeigt sie in »Der Fall Mischa E.«, der mit Mord und Selbstmord endet. Und auch in ihren Künstler-Portraits wie die über Marianne von Werefkin, die Gefährtin von Alexej Jawlenski, und Künstlerin aus eigenem Recht, lässt sich Stella Tinbergen immer wieder auf Ambivalenz und Widersprüchlichkeit ein. Das bezieht sich auch auf die Form ihrer Filme, die meistens zugleich Dokument und künstlerische Gestaltung sind, Wirklichkeit und Kunst.
Diese Verbindung prägt auch »Henriette und Guido«; es ist das Gegenteil eines »rauen« Dokumentarfilms. Die Einstellungen sind durchkomponiert, die Farbpalette, gedeckt und dunkel, mit Bedacht benutzt, die Musik schließlich, reduziert postromantische Klavierklänge, die das Geschehen zunächst aus dem Off begleitet, wird in der Therapie in die Handlung hinein gezogen. Und am Ende liegt der schönste Ausblick in einer Szene, in der sich Kunst und Leben vollständig verbinden, in der anderen Leidenschaft der Regisseurin, dem Tanz.
Was aus Henriette und Guido wird, muss offen bleiben. Es hat schließlich nicht nur Fortschritte sondern auch ein paar Rückschläge gegeben. Die Versöhnung mit den Geschwistern, die nur leicht angedeutet ist, wird kein neues Idyll zeitigen. Das Leben von Henriette und Guido wird schwierig bleiben. Und schwierig wird es auch für ihre Umwelt bleiben. Aber es hat einen Glanz bekommen. Und der Film hat seine Aufgabe perfekt gelöst. Die Berührung.

Georg Seeßlen / Fotos: © Stella Tinbergen
>>> TRAILER
Henriette und Guido – eine ungewöhnliche Liebesgeschichte
von Stella Tinbergen, D 2024, 102 Min.
Dokumentarfilm
Start: 18.09.2025

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