#saytheirnames – »Das Deutsche Volk« von Marcin Wierzchowski

Am 19. Februar 2020 erschoss der rechtsextreme Attentäter Tobias Rathjen in Hanau: Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Paun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoǧlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin. Das Tatmotiv: paranoider Ausländerhass. Die Presse spekuliert einmal mehr zuerst über »Milieukriminalität«, die Polizei kommuniziert zunächst eine »Schießerei«. Sie bleibt in der Tatnacht fahrlässig untätig. Der Notruf ist nicht erreichbar, ein Problem, das offenbar lange bekannt war.

Und danach zeigt man sich gegenüber den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer als geradezu abscheulich empathielos. Ihnen werden die grundsätzlichsten Rechte von Mitmenschlichkeit und Rücksichtnahme verweigert. Erst später stellt sich heraus, dass dabei viele Polizeibeamte im Einsatz waren, die dem Sondereinsatzkommando (SEK) angehörten, das wegen eines rechtsextremen Netzwerks der Beamt*innen aufgelöst wurde. Selbst das korrekte Nummernschild des Täters führte nicht zu einer zielgerichteten Fahndung. Der Minister sah auch, nachdem das vollständige Versagen der Behörden nicht mehr zu verleugnen war, keinen Anlass sich zu entschuldigen. Er behauptete im Gegenteil, alle Einsätze seien »optimal verlaufen«. Unnütz zu sagen, dass die Forderung nach dem Rücktritt des hessischen Innenministers ins Leere liefen. Weil der Täter nach der Flucht zuerst seine Mutter und dann sich selbst erschossen hatte, kam es zu keiner Gerichtsverhandlung. Den Impuls zur Mordtat erklärte man im Nachhinein mit einer offensichtlichen psychotischen Störung, die Rathjen immer wieder in die Psychiatrie und ebenso schnell wieder aus ihr heraus brachte. Dass das Versagen der Behörden in seinem Fall schon vorher begonnen hatte, da er neben etlichen Straftaten auch durch Drohbriefe an die Staatsanwaltschaft aufgefallen war, dass er seinen Verfolgungswahn immer mehr auf »Ausländer« projizierte und sich gemeinsam mit seinem Vater immer mehr mit rechtsextremem Gedankengut ausstaffierte und diese auf einer eigenen Webseite verbreitete, dass er im Monat vor der Tat in einer »Botschaft an das deutsche Volk« seine Vernichtungsphantasien verbreitete – all das hätte zu einem Lehrstück zum Zusammenhang von Paranoia und Rechtsextremismus und zu einer erhöhten Anstrengung bei Prävention, Sicherheit und Aufklärung werden können. Wenigstens diesen Ehrendienst hätten Polizei, Presse, Justiz und Politik den Opfern erweisen können: Dass man aus dem Fall lernen würde, dass man ein solches Verhalten der Behörden wie das in Hanau nicht noch einmal dulden würde, dass man die Erinnerung an die Opfer bewahren und die Trauer der Hinterbliebenen teilen würde. Das genaue Gegenteil aber trat ein. Nichts wurde unternommen, die Umstände der Tat zu untersuchen. Jeder kleine Schritt der Aufklärung musste von außen erzwungen werden. Die Angehörigen wurden weiter mit rassistischen Anwürfen konfrontiert, und ein CDU-Politiker verkündete lautstark, Hanau müsse nun rasch wieder »zur Normalität zurückkehren«.
»In diesem Land ist nichts wichtiger als Normalität« erkennt eine der Hinterbliebenen im Film »Das deutsche Volk«. Regisseur Marcin Wierzchowski begleitete vier Jahre lang die Angehörigen der Opfer in ihren Versuchen, die Trauer zu bewältigen und eine Form von Gedenken und Erinnerung gegen den Widerstand von Politik und Öffentlichkeit durchzusetzen. Die Grunderfahrung aller dieser Menschen ist es, dass sie nicht als »echte Deutsche« anerkannt werden, und selbst die großen Worte der Politiker*innen bleiben merkwürdig abstrakt. Am furchtbarsten aber ist der Zusammenschluss einer kalten Bürokratie mit einer Öffentlichkeit, die sich in ihrer »Normalität« nicht stören lassen und auf dem Marktplatz kein Gedenken an die Opfer haben will, neben dem Denkmal der Gebrüder Grimm, das vom »Deutschen Volk« gestiftet sei.
Dieser Film tut, was Politik, Behörden und Öffentlichkeit unterdrücken, er gibt den Opfern und deren Angehörigen eine Stimme, er zeigt, was hinter der sozialen Katastrophe und hinter den unaufgeklärten Tatumständen steht: Menschen. Wir verfolgen diese dreifache Arbeit der Angehörigen, die Trauer zu verarbeiten, das kollektive Gedächtnis für die Opfer zu wahren und von der Gesellschaft anerkannt zu werden, in einem Film, der geduldig zusieht und zuhört. Immer wieder, wie ein Leitmotiv, werden die Namen der Opfer ausgesprochen, ihre Bilder gezeigt, als Geste gegen das, was die Mainstream-Gesellschaft am liebsten hätte, das Vergessen und die Normalität. Wir sehen die Ereignisse, mittlerweile archiviert und selbst in ihren monströsen Aspekten historisch abgelegt, noch einmal – und diesmal aus der Perspektive der Opfer und ihrer Angehöriger. Und was man sieht, bedeutet: Es ist nicht vorbei! Es ist nichts »normal«. Es ist der Film, der die Empathie und den Respekt zeigt, den diese Gesellschaft der Normalen verweigert. Und so sehr die Ignoranz, die Überheblichkeit und den Willen zur Verdeckung der Behörden, mit denen man sich auseinandersetzen muss, auch empört, so ist es doch kein pessimistischer Film. Denn er zeigt, wie Menschen sich wehren, wie sie dabei auch Erfolge erzielen können.
Nach und nach nämlich kommen die Versäumnisse doch ans Licht: Dass ein Notausgang des Tatorts Arena Bar verschlossen war, trotz vorheriger polizeilicher Besuche und womöglich mit dem Vorsatz, bei den Razzien niemanden entkommen zu lassen, dass das Haus des Verdächtigen nicht gesichert wurde, dass es vorher eine grobe Fahrlässigkeit bei der Waffenerlaubnis gab, dass den Familienangehörigen der Opfer der Zugang zu den Verstorbenen und die Totenfürsorge verweigert wurden, dass man einen blonden, blauäugigen und hellhäutigen jungen Mann im Obduktionsbericht mit dem Vermerk »Aussehen: orientalisch-südländisch« bezeichnet, nur aufgrund seines Namens – welch eine Erfahrung, dass ein Sohn von einem Rassisten ermordet wird, und der Rassismus bei der Untersuchung einfach weitergeht.
Der Film gibt den Angehörigen viel Raum und Zeit, hier wird nicht »informiert«, hier wird miterlebt; alles bleibt in einem angemessenen – digitalen – Schwarz/weiß, ganz gegen die Gewohnheiten der entsprechenden Fernsehfeatures; es ist wichtig, dass man diesen Menschen zugleich nahe ist, und doch eine respektvolle Distanz bewahrt, um eine letzte Form von Ausbeutung zu verhindern. Aber neben den Menschen, die wir in ihrer Sprache, ihren Plänen (wie zum Beispiel die Benennung einer Straße in Rumänien nach dem toten Sohn), ihrem Zorn und ihrer Verzweiflung kennen lernen, gibt es auch Bilder, die etwas von der emotionalen Kälte wiedergeben, in der sie sich bewegen müssen. Wie die kleinen Symbole des Gedenkens, die Blumen, Kerzen und Bilder, von der Müllabfuhr »entsorgt« werden, wie Amtsräume abweisend sein können, und wie jemand darin erklärt, dass ein Gedenken im Zusammenhang mit dem Grimm-Denkmal des deutschen Volkes nicht zu vermitteln sei, und immer wieder dieses Politiker-Sprech und das Amtsdeutsch. Dass dieses Vorhaben einer Gedenk-Installation am Widerstand der Stadt-Offiziellen scheitert, die so etwas nicht auf ihrem schönen Marktplatz haben wollen, ist einer der vielen Skandale, die dem ersten folgen. Der Film macht die bürokratische Kälte der Planungssitzungen deutlich, indem er einen Einwurf von Emis Gürbüz dokumentiert, bei dem sie ihre Wut nicht mehr bändigen kann. Man möchte mit ihr schreien gegen diese Normalität der Gefühllosigkeit, die sich auf ein »Volk« bezieht.
»Wisst ihr, wie es ist, von der Polizei einfach nicht ernst genommen zu werden, und einfach weggeschickt zu werden, wenn man Anzeige erstatten will?« lautet eine Frage. Von der »Bringschuld«, von der Walter Steinmeier am Anfang gesprochen hat, die der Staat gegenüber den Angehörigen der Opfer und gegenüber den Aufklärungen haben, ist schon nach einem Jahr kaum etwas übriggeblieben, das muss sogar die Bundesinnenminsterin zugestehen. Immerhin gibt es einen Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag. »Das ist mein Verständnis von einem Staat, der aus Versäumnissen und Fehlern lernt«, sagt die Ministerin.
Und nun? Fünf Jahre später? Ein Kanzler, der eine Asylwende verspricht. Eine rechtsextreme Partei, die von einem Drittel des deutschen Wahlvolkes unterstützt wird. Eine Bundestagspräsidentin, die Regenbogenfahnen ablehnt und sich auf von Rechtsextremen gesponsorten Veranstaltungen sehen lässt. Viele »Einzelfälle« später ist von einer Bringschuld so wenig mehr die Rede wie von einem Lernen aus Versäumnissen und Fehlern. Aber es gibt diesen Film, der dringend empfohlen ist für alle, die sich mit solcher Normalität nicht abfinden wollen.

Georg Seeßlen / Foto: © Rise and Shine Cinema
>>> TRAILER
Das deutsche Volk
von Marcin Wierzchowski, D 2025, 132 Min.
Dokumentarfilm
Start: 04.09.2025

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert