Staatstheater Darmstadt: Mit »Seid nett zu Mr. Sloane« über die Grenzen

Jeder Mensch ist ein Abgrund, lässt Georg Büchner seinen Woyzeck räsonieren. Das Zitat hing vor ein paar Jahren eine ganze Spielsaison lang über den Treppen zum Darmstädter Staatstheaters und fällt dem Chronisten der jüngsten Premiere des Hauses schon deshalb wieder ein. Dort in den Kammerspielen wird ein Jahr nach der anarchistischen Farce »Was der Butler sah« (s. Strandgut 11/2024) nun als zweiter Teil einer Joe-Orton-Trilogie »Seid nett zu Mister Sloane« gegeben. In der Regie dieses Mal von Marlon Tarnow handelt die rabenschwarze Komödie, Originaltitel »Entertaining Mr. Sloane«, von Menschen, die unter demonstrativer Wahrung von britischer Etikette rücksichtsloser und selbstsüchtiger nicht sein könnten.
Erzählt wird von dem jungen Kriminellen Herrn Sloane (Nico Ehrenteit), der in seiner neuen Bleibe zum Objekt der erotischen Begierden seiner vereinsamten lüsternen Vermieterin Kath (Laura Eichten) und ihres schwulen Bruders Eddy (Florian Donath) wird und dies mit einer Chuzpe zu nutzen weiß, die selbst der Mord am greisen Vater der Geschwister, Kemp (Niklas Herzberg) mit Namen, nicht ins Wanken bringt. Uraufgeführt 1964 in einem England, das Homosexualität noch unter Strafe stellte, war Hortons geißelnde Darstellung bürgerlicher Bigotterie eine Provokation – und folgerichtig ein Skandal.
Trotz aller Rollbacks dieser Tage haftet dem Werk nach sechzig Jahren doch reichlich Patina an und wird auch kaum mehr gezeigt – eine Ausnahme war 2015 am Schauspiel Frankfurt in der Regie von Jürgen Kruse. Ein Retro-Handicap, das Regisseur Tarnow in Darmstadt dadurch zu meistern versucht, dass er den schwarzhumorigen Boden dieses schrägen Stücks ins noch Groteskere katapultiert und den Spiegel von gesellschaftlicher Macht, Lust und Gewalt durch einen Zerrspiegel ersetzt. Heraus kommt eine von Live-Cams, befremdenden Gruselmasken und Videos gestützte derbe Posse mit Elementen aus der Splatterschule, die man trotz berechtigter Triggerwarnung durchaus als somatische Herausforderung werten darf und nicht eben auf Massengeschmack zielt. Die Zuschauerränge bei der Darmstädter Premiere jedenfalls leerten sich sukzessive, wenn auch nicht gänzlich.
Völlig überzeichnet treten auch die vollmaskierten Darsteller auf: Während die verwahrloste Kath mit Mega-Hängebrüsten und ihr Bruder mit einem Skrotum in Schlabberlatzgröße ausgestattet sind, erscheint Sloane mit Tiefschutz als feminine Kontrastfigur. Abweichend vom sonst erstaunlich werktreuen Zugriff, doch ästhetisch wegweisend, legt der Regisseur gleich zu Beginn seine Lesart offen, indem er uns den seiner Schließmuskeln nicht mehr Herr werdenden alten Kemp beim beschwerlichen Gang auf die Toilette erleben lässt. Eine Ekelszene gewiss, die dennoch die einzig wirklich empathische des Abends bleibt, wenn sich Kath in Großaufnahme daran macht, den geschundenen Körper ihres koprophilen Vaters liebevoll von der Theaterkacke zu befreien. Ganz ähnlich beginnt übrigens der sehenswerte Schweizer Film »Heldin« über den Alltag einer Krankenpflegerin
Nach einem solchen Auftakt überrascht es nicht, dass die Inszenierung entschlossen sämtliche Geschmacksgrenzen ausreizt. Da wird ein Wurstzipfel unter orgiastischem Schmatzen niedergelutscht und das gewaltsame Ende von Kemp, der Sloane als gesuchten Killer erkannt hat, zum veritablen Schlachtfest der Sinne mit Kettensäge und fliegenden Körperteilen. Selbstverständlich darf – und muss – herzlich gelacht werden dabei. Auch darüber, dass die inzwischen schwangere Kath und ihr Bruder Ed sich mit ihrem Untermieter zugunsten einer ménage à trois darauf verständigen, Opas grausamen Tod als gewöhnlichen Hausunfall zu melden.
Passend ausklingend mit der »Bitter Sweet Symphony« von The Verve darf man Tarnows stimmiger und konsequent durchgezogener Inszenierung gewiss Kultpotenzial zusprechen. Die Verbliebenen jedenfalls spendeten Spielern und Machern frenetisch Beifall. Kein Buh nirgends. Gut so. Orton-Fans und alle, die es werden wollen, werden im Dezember mit sechs Aufführungen und der Wiederaufnahme des Butlers beglückt.

Winnie Geipert / Foto: © Jonas Weber
Termine Mr. Sloane: 6., 11., 12., 20., 27. Dezember, 20 Uhr
Termine Butler: 13., 30. Dezember, 20 Uhr
www.staatstheater-darmstadt.de

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