Die Kulissen werden abgebaut. Das Theater, wie wir es kennen, der prächtige Saal, in dem das Publikum gerade sitzt, wird auf der Bühne auseinandergenommen. Übrig bleibt ein leerer, schwarzer Raum mit breiten Stufen, die nach hinten ansteigen. Dort, ganz oben, ergibt sich ein weiteres Spiegelbild, eines, das zeigt, wie es hätte auch sein können: Hannah Lindner singt in Marlene-Dietrich-Manier und erinnert so daran, dass die Künstlerin nicht bereit war zur Propaganda für die Nationalsozialisten. Ein Gegenentwurf zu Hendrik Höfgen, dem Protagonisten von Klaus Manns Roman »Mephisto«, und ein in den nächsten zwei Stunden dauerpräsentes schlechtes Gewissen.
Mit diesem Bild des Zerfalls beginnt im Großen Haus des Wiesbadener Staatstheaters Luk Percevals Inszenierung des nicht zuletzt durch die oscarprämierte Verfilmung von István Szabó mit Klaus Maria Brandauer eindrücklich in Erinnerung geblieben Stoffes um einen Schauspieler und Regisseur, der mit dem anfangs verhassten Regime tanzt und marschiert. Auch, um den eigenen Ehrgeiz zu befriedigen. Dass Gustaf Gründgens dem ältesten Sohn Thomas Manns als Vorbild für diese Figur diente, ist kein Geheimnis. Der Mime, der durch seine Darstellung des Teufels in Goethes »Faust« am Preußischen Staatstheater Berlin berühmt wurde, war in den 1920er-Jahren mit der Schwester des Schriftstellers verheiratet. Christian Klischat spielt diesen von Selbstzweifeln getriebenen Mann, der den Möglichkeiten, die sich ihm als eigentlich nur durchschnittlichem Künstler bieten, nicht widerstehen kann. Auch wenn er dafür alles, wofür er vorher stand, und jene, die ihm etwas bedeuten, verrät. Der sich selbst nicht als Täter sieht, sondern als einer, der nicht anders kann, der mitgerissen wird, nicht stark genug ist, Gegenwehr zu leisten, da er doch, weil andere ausgegrenzt, verfolgt, verhaftet werden, eine Stufe nach der anderen auf der Karriereleiter erklimmt. »Soll ich den Niagarafall mit einem Regenschirm aufhalten?«, fragt er einmal.
Das karge Bühnenbild von Philip Bußmann lässt den vollen Fokus auf Höfgen zu, der mit Vornamen eigentlich Heinz heißt. Aber das wissen nur seine Familie und seine Geliebte, die später sowieso mundtot gemacht werden wird. Inmitten von Nebelschwaden und ins rechte Licht gerückt, zermürbt und windet Klischat sich im Vordergrund, ringt mit Minderwertigkeitskomplexen und verstrickt sich in die Kabel der Mikrofone, die seine Mitspieler nutzen, wie Höfgen in Lügen und Machenschaften. Diesem grandiosen, intensiven Spiel stehen die anderen im kleinen Ensemble, die teilweise in verschiedene Rollen hinein- und hinausgleiten, nicht nach: Lennart Preining, der hier als homosexuell angehauchte Domina Juliette auf High Heels herumstöckelt, Adi Hrustemovic als der gönnerhafte Ministerpräsident, Süheyla Ünlü als die wechselhafte Nicoletta, Felix Strüven als Jungnazi Hans Miklas, Laura Talenti als Hendriks »rettender Engel« Barbara.
Man muss nicht lange grübeln, warum dieses Stück gerade jetzt wieder auf die Bühne strebt. Mit wenigen Mitteln und Karol Nepelskis atmosphärischen Klängen gelingt es dem Belgier Perceval, die Botschaft, die sich in dem erschreckend visionären Original daraus lesen lässt, dass besonders in Zeiten wie diesen Haltung zählt, unter die Haut gehen zu lassen. Als Höfgen sich mit den Worten verabschiedet »Ich bin doch nur ein ganz gewöhnlicher Schauspieler«, klingen die Eindrücke nicht nur deshalb noch lange nach, weil er den Satz mehrfach draußen in den Gängen wiederholt, während das Publikum im Dunklen das Gesehene schon verarbeitet.
Von Selbstzweifeln getrieben – »Mephisto« am Staatstheater Wiesbaden