Regina Nössler und ihr »Wanderurlaub«

Oberste Liga

Dies ist ein sehr böses Buch. Regina Nössler hat die Idee dazu vermutlich bei einem dieser vororganisierten Wanderurlaube entwickelt, bedankt sich im Nachspann auch bei ihrer Verlegerin, die manche Erinnerung aufgefrischt habe. Und ja, auch Claudia Gehrke kann ein maliziöses Lächeln um ihrer Mundwinkel haben, die quirlige und mutige Verlegerin (nicht nur) erotischer Literatur, die seit 1978 ihren Konkursbuchverlag als eine zuverlässig feste Größe im deutschen Literaturbetrieb behauptet. Seit 1985 erscheint das Jahrbuch »Mein heimliches Auge«, längst ergänzt von »Mein lesbisches Auge« und »Mein schwules Auge«.

Weniger bekannt ist vermutlich, dass bei Konkursbuch auch veritable Kriminalromane erscheinen. »Strafe muss sein«, hieß Regina Nösslers erster Roman bei Claudia Gehrke vor 20 Jahren, der vorletzte, »Auf engstem Raum« spielte in einem Berliner Schreibwarenladen alter Schule, verstaubt in mehrerlei Hinsicht und langsam dem Untergang entgegen schlingernd. Ein Kabinettstück der Thrillerliteratur. »Wanderurlaub« ist nun ihr 13. Buch. Verdient hätte sie, dass es ihr richtig Glück bringt. Meine Ver- und Bewunderung wuchs mit jeder Seite der Lektüre. Patricia Highsmith hat eine deutsche Erbin gefunden. »Wanderurlaub« ist ein Thriller des alltäglichen Schreckens, der kleinen Abgründe des menschlichen Beisammenseins, der kleinen, bösen und doch so wahren Beobachtungen. Das alles erzählt in einer schlüssigen, sich logisch vorwärts entwickelnden Handlung – eben aus einer Alltagssituation heraus.

Alltag bzw. der beabsichtigte kollektive Ausstieg aus ihm, das sind zehn Tage Wanderurlaub auf La Palma: 13 deutsche Wanderinnen und Wanderer und ein Wanderführer. »Auf der ganzen Insel nur 85.000 Bewohner – die Touristen nicht mitgezählt -, das muss man sich mal vorstellen«, heißt es auf Seite 2. »Das entspricht der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, und die mir immer zu eng war. Zu provinziell. In dieser viel zu kleinen Stadt würde inzwischen längst schon irgendwo jemand stehen, hinter dem Gartenzaun, hinter den Gardinen, um zu gucken, wer da herumlungert«. Ja eben. Sonne, Freiheit, Entspannung, Bewegung in der Natur, die schönsten Tage des Jahres sollen es werden. Alltag und Beruf sollen zuhause gelassen werden, und sind doch mit im Gepäck. In der neuen Gruppendynamik bricht sich manch Aufgestautes Bahn.

Regine Nössler erzählt das virtuos, lässt aus vielen Perspektiven ein Beziehungsgeflecht entstehen, in dem sich glaubhafte und nie überzeichnete Charaktere aneinander reiben. Wer hat sich nicht auch schon unzensierte Gedanken über den Nachbarn im Flugzeug oder im Reisebus gemacht, hässlich über andere am Gepäckband auf dem Flughafen gedacht, böse Vermutungen über den Beziehungszustand fremder Paare angestellt oder sich über schlechten Benimm am Frühstücksbuffet geärgert? Wozu zur blöden Sitznachbarin im Ferienflieger nett sein, überlegt sich zum Beispiel Carina, bei einem Flugzeugabsturz wären eh alle doch sofort tot. Einer aus der Gruppe sammelt Urlaubstode, Geschichten und Meldungen verunglückter Touristen, hat das bisher vornehmlich im Gebirge getan und freut sich nun über allerlei Insel-Potenzial.

Ein Feuerwerk an genauen Beobachtungen und stimmigen Details durchzieht die sich immer bedrohlicher aufschaukelnde Handlung. Der Schrecken lauert im Alltag, alleine etwa schon in der im Reiseprospekt verlangten »Trittsicherheit«. Eine der Kapitelüberschriften lautet »Wir haben schließlich dafür bezahlt«, das kennen wir alle. Oft und immer wieder habe ich beim Lesen ein maliziöses Lächeln auf meinem Gesicht gespürt.

Trittsicher bewegt Regina Nössler sich auf Highsmith-Territorium, ihr Können ist meisterlich, oberste Liga. »Viele angehende Schriftsteller sind der irrigen Meinung, arrivierte Autoren müssten ein Erfolgsrezept haben. Aber es gibt beim Schreiben kein Geheimnis«, schreibt Patricia Highsmith in ihrem Nicht-Ratgeber »Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt«, »es gibt nur Individualität oder, wenn man so will, Persönlichkeit«.

Regina Nössler wurde 1964 in Altenhundem (Sauerland) geboren und in Frankfurt eingeschult, wo sie 1970 Lesen und Schreiben nach der heute unpopulären Ganzheitsmethode lernte. Später wuchs sie in Herten (Ruhrgebiet) auf, seit 1995 lebt sie in Berlin. Das Genre des Kriminalromans betrachtet sie keineswegs als minderwertige Literaturgattung – weder vom Standpunkt des Schreibens noch dem des Lesens.

Alf Mayer
Die Bücher von Regina Nössler:
– Wanderurlaub, 2013
– Auf engstem Raum, 2011
– Kleiner toter Vogel, 2010
– Die Kerzenschein-Phobie, 2008
– Morgen ohne Gestern, 2007
– Liebe hoch drei, 2007
– Tiefe Liebe, freier Fall, 2006
– Dienstags gefühle, 2005
– Alltag tötet, 2003 (Erzählungen)
– Eifersüchtig durch den Winter, 2001
– Wahrheit oder Pflicht, 1998
– Wie Elvira ihre Sexkrise verlor, 1996 (Erzählungen)
– Strafe muss sein, 1994
Als Herausgeberin:
– Angst, konkursbuch 46 (zusammen mit Corinna Waffender), 2007
– Schreiben, konkursbuch 44 (zusammen mit Claudia Gehrke), 2006
– Haut, konkursbuch 41 (zusammen mit Christine Hanke), 2003
– Bisse und Küsse 2 (zusammen mit Anna Maria Heller), 2002
– Haare, konkursbuch 36 (zusammen mit
– Blut, konkursbuch 33 (zusammen mit Petra Flocke), 1997

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