Der argentinische Roman »Dringliche Angelegenheiten« von Paula Rodríguez

Manchmal wird noch die wahnwitzigste Literatur von der Realität eingeholt. Ganz aktuell geschieht das gerade mit der Argentinierin Paula Rodríguez und ihrem Roman »Dringliche Angelegenheiten«, der ein ziemlich durchgeknalltes, dabei sympathisch menschliches Land zeigt. Das Buch ist im letzten Herbst im Unionsverlag erschienen und hat es aus dem Stand auf die Krimibestenliste geschafft. In Argentinien selbst wurde die rabenschwarze Krimigroteske im März 2020 veröffentlicht, eine spanische Ausgabe erschien 2021, die englische 2022. Seit der Stichwahl vom 19. November 2023 hat das Land mit Javier Milei nun einen von Donald Trump herzlich begrüßten Präsidenten, der – hätte sich ein Schriftsteller getraut, sich so etwa auszudenken – ganz und gar wie eine Erfindung aus dem Tollhaus klingt: Zerzaustes Haar, Auftritte im Wahlkampf mit Kettensäge als Symbol der Veränderung, wilde Ankündigungen, die Nationalbank und viele Ministerien aufzulösen, den Peso abzuschaffen und US-Dollar als Zahlungsmittel einzuführen sowie die Beziehungen zu den wichtigsten Handelspartnern China und Brasilien zu kappen, weil die von »Kommunisten« regiert würden. Den Papst nennt er einen »schmutzigen Linken«, Al Capone einen »Helden«, seine inoffizielle Biografie vom Journalisten Juan Luis González trägt den Titel »El Loco« (Der Verrückte).
Den Wahlkampf führte Milei vornehmlich über soziale Medien und Privatfernsehkanäle. Auch künstliche Intelligenz (KI) kam zum Einsatz, zum Beispiel bei einem Wahlplakat, das den gegnerischen bürgerlichen Kandidaten als chinesischen Staatschef zeigte. »Die Freiheit schreitet voran« (La Libertad Avanza) nennt sich die Partei des Wahlsiegers. Der Exzentriker lebt mit fünf geklonten riesigen Mastiffs (eine britische Hunderasse) zusammen, die er nach den liberalen Ökonomen Milton Friedman, Murray Rothbard, Robert Lucas sowie der Fantasyfigur Conan der Barbar benannt hat. Conan I. starb 2017, mit ihm verband Milei mehr nur als eine Seelenverwandtschaft, sie hatten sich vor 2000 Jahren schon im Colosseum von Rom als Gladiatoren getroffen, sich im Kampf verschont und sich ewige Treue geschworen. Von einem Medium bei einer Seance vermittelt, gab Conan ihm den Auftrag, Präsident von Argentinien zu werden. Mileis Hunde stammen – geklont – alle von diesem Ahnen, Conan II. betrachtet Milei als seinen eigenen Sohn. (Siehe dazu auch das seriöse Time-Magazin vom 20. 11.2013.)
In einem Roman würde man das kaum glauben. Aber jetzt ist es Realität. So ist das mit den Fakten im postfaktischen Zeitalter. Geradezu Gänsehaut macht deshalb nun, womit Paula Rodríguez ihren Roman anfangen lässt und durch welches Schlamassel sie ihre Figuren führt. »Dringliche Angelegenheiten« ist im Präsens geschrieben und beginnt mit einem heftigen Zugunglück. Hugo, eine der Hauptfiguren des Buches, ist in einem komplett zerstörten Abteil eingeklemmt, um ihn herum über vierzig Tote. Gut, dass er zum Heiligen Expeditus, dem Schutzheiligen alles Dringenden und Eiligen beten kann. Dringend und eilig hat er es tatsächlich – nämlich davonzukommen. Unterzutauchen. Die Polizei sucht ihn in einem Mordfall. Er hat sich mehr als verdächtig gemacht. Hugo nutzt das Tohuwabohu aus, um seine Spur zu verwischen und erst einmal von der Bildfläche zu verschwinden.
Ein erfahrener Polizist ist ihm auf den Fersen. Die Presse kommt ins Spiel, die Medien stürzen sich auf das Unglück, dann auf die Tatsache, dass Hugo vermisst wird. Private Fotos der Familie werden geteilt. Da ist seine Frau, da ist seine Tochter. Hugos Schwiegermutter drängt sich ins Bild. Vielleicht können viele Ave Marias ihn wieder zurückbringen? Ein drei Tage dauerndes Kettengebet soll helfen. »Mein Jesus, Verzeihung und Barmherzigkeit durch die Verdienste deiner heiligen Wunden«, heißt es in diesem Wunderrosenkranz. Währenddessen drehen die Medien durch. Zwei TV-Sender suchen einander zu überbieten. Scheinheiligkeit ist neben Heiligkeit am Werk. Ein wahrer Medienzirkus. Und mittendrin drei Generationen Frauen: Tuppersex-Partys mit Dildos, daneben Heiligenbildchen und teeniehaftes Aufbegehren. Zwar kommt im ersten Satz des Buches ein Zug mit großem Getöse zum Stehen, die Geschichte aber jagt weiter. Alle Figuren befinden sich auf einem Karussell, das sich immer schneller dreht. Niemand der einsteigt ist unschuldig.
Was für eine Metapher. Was für ein Beginn. Ein Land als Eisenbahnwrack. Vor dem Wahlsonntag vom 19. November wäre das Buch von Paula Rodríguez einfach ein überdrehter, zu weiten Teilen satirischer Kriminalroman gewesen. Jetzt ist sozusagen ein ganzes Land aus dem Gleis gesprungen. Jetzt wird es nicht nur einzelne Romanfiguren treffen, die ums Davon- und Durchkommen kämpfen müssen. Der Wahlkampf in Argentinien hat gezeigt, dass nichts vom Medienwahnwitz, den die Journalisten Paula Rodríguez in ihrem ersten Roman aufblättert, übertrieben ist. Manchmal nehmen Romane die Wirklichkeit vorweg. Manchmal sind sie deren besserer Kommentar.
Und definitiv unterhaltsamer. Auch das beweist Paula Rodríguez, die sich mit ihrem Debut neben lateinamerikanische Autorinnen wie Patricia Melo, Mercedes Rosende, Claudia Piceiro reiht. Sie ist Journalistin, Redakteurin, Autorin, Komikerin, Ghostwriterin und feministische Aktivistin, ein Allround-Talent, Mitarbeiterin des Satiremagazins »Barcelona« und Co-Direktorin eine Schule für Kulturjournalismus in Buenos Aires.

Frage: Wissen Sie noch Ihre Stimmung, in der sie den Roman angefangen haben?
Paula Rodríguez: Ich war mit meinem Beruf und der Entwicklung des Journalismus sehr unzufrieden. Ich befand ich mich in einer Zeit großer Frustration und mitten in einer Sinnkrise. All dieser schieflaufende Diskurs und die zunehmende Frage nach der Wahrheit. Die Fake-News wurden ein immer größeres Problem und das, was man »Post-Truth« nennt, postfaktische Politik. Fakten werden für irrelevant erklärt und der emotionale Effekt einer Aussage vor allem auf die eigene Zielgruppe wird wichtiger als der Wahrheitsgehalt. Außerdem wollte ich das Gegenteil von dem tun, was ich als Journalistin tun würde.

Was heißt das?
Paula Rodríguez: Alles für meine Geschichte so zu organisieren und jedes Detail aufzuzeichnen wie ich es als im Beruf tun würde, um dann darauf aufbauend zu arbeiten. Eine derart lineare und verständliche Handlung zu schaffen, widersprach völlig meiner Vorstellung von dem Buch. Es sollte wilder sein. Ich weiß, wie journalistisches Schreiben ist, und ich habe versucht, das so weit wie möglich zu vermeiden.

Können Sie näher erläutern?
Paula Rodríguez: Das fängt schon beim Sprechen an. Wenn Menschen sprechen, vervollständigen sie ihre Sätze oft nicht. Es klingt zwar so, aber da sind immer Lücken. Ich habe das oft bemerkt, wenn ich meine Interviews oder Aussagen abgeschrieben habe. Für mich war es sehr wichtig, dass diese Art Realismus in der Erzählung vorhanden ist. Ich habe viel über diesen Sprachzustand nachgedacht, der in den Lücken mehr aussagt als in den Worten.

Ist ihr Roman ein Porträt der aktuellen argentinischen Gesellschaft?
Paula Rodríguez: Ich weiß nicht, ob es sich um ein Fresko der argentinischen Gesellschaft handelt, aber ich kann Ihnen sagen, dass ich beim Schreiben zum Realismus tendiere, fast so als ob ich damit einen Vertrag habe. Manchmal ergeben sich gerade damit die wildesten Sachen. All diese literarische Planung, die man uns Autorinnen und Autoren gerne unterstellt, ist oft nur Zufall.

Noch einmal zur Presse …
Paula Rodríguez: Die Presse spielt fast wie eine eigene unabhängige Figur eine führende Rolle bei der Entwicklung der Handlung. In einem literarischen Genre wie der Kriminalliteratur, in der es üblich ist, nach einer verborgenen Wahrheit zu suchen, gibt das dem Ganzen sicher etwas Pfeffer.

Paula Rodríguez: Dringliche Angelegenheiten (Causas urgentes, 2020). Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag, Zürich 2023. 224 S., 24 €

Neben der Presse spielen auch Schutzheilige, Gebete, Religion und Aberglaube eine Rolle in Ihrem Buch. Was hat es damit auf sich?
Paula Rodríguez: Das sind doch alles Aspekte des täglichen Lebens. Auch die Schwarzarbeit, die Korruption, das Kasino, das Glückspiel, all die kleinen Hoffnungen und die verbotenen kleinen Freuden. Die Tuppersex-Dildos ebenso wie die TV-Seifenopern.

Haben Sie eine Lieblingsfigur?
Paula Rodríguez: Ja, es gibt eine Figur, einen Teenager, die Tochter. Das ist Evelyn, in der das Aktivistinnen-Herz verankert ist, das auch in mir schlägt. Beim Schreiben kommen am Ende die Themen zum Vorschein, die einen beschäftigen. In diesem Fall ging es auch um die Frage, wie eine Wahrheit konstruiert wird. Letztlich kommt es nicht auf die Wahrheit an, sondern darauf, wer in der Lage ist, seine Version der Tatsachen durchzusetzen.

Der Zugunfall hat ein reales Vorbild?
Paula Rodríguez: Ja, das was wir in Argentinien »Die Tragödie von Once« nennen. Ein Eisenbahnunfall in der Estación Once de Septiembre in Buenos Aires am 22. Februar 2012, bei dem 51 Menschen starben und mindestens 703 verletzt wurden. Mehrere Beamte mussten sich dafür wegen Korruption und mangelnder Kontrolle vor Gericht verantworten. Diese Tragödie hatte für mich eine Präsenz des Todes, wie er in Kriminalromanen sehr häufig vorkommt. Es ist nicht das zentrale Thema des Romans, sondern vielmehr die Alltagslandschaft, in die uns die Geschichte führt. Es ist der kleine Wert des Lebens. Ja, es gibt diesen Hintergrund, der bitter ist, und das könnte einer der Gründe sein, warum der Kriminalroman gerade einen Moment der Popularität erlebt.

Wie finden Sie es, dass Ihr Roman in deutscher Übersetzung erscheint?
Paula Rodríguez: Wunderbar. Einfach wunderbar. Übrigens kommt Bayer Leverkusen an einer Stelle vor. Sie sind ja derzeit in der Bundesliga sehr gut aufgestellt, höre ich. Meine Geschichte ist sehr lokal, aber die Themen, die sie berührt, sind universell. In erster Linie geht es mir um Spaß und Spannung. Möge die Geschichte unterhalten und begeistern. Ich hoffe, dass es einem beinahe leidtut, dass man sie zu Ende gelesen hat, weil sie dann vorbei ist und man eine gute Zeit hatte.

Und weil Sterben der beste Weg ist, dem System zu entkommen?
Paula Rodriguez: Ist das nicht eine gute Pointe? Und sie stimmt.

Alf Mayer / Foto: © Alejandra Lopez

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