Der Australier Garry Disher ist in gleich mehrfacher Hinsicht ein Paradebeispiel für Bücherglück. Er macht nicht nur bei Kritikern Eindruck, er begeistert auch seine Leser*innen mit Spannung, Qualität und Tiefe. Den Titel »Krimi des Jahres« hat er bereits drei Mal in Australien und sogar fünf Mal schon in Deutschland errungen. Jetzt liegt mit »Funkloch« endlich der siebte Roman mit dem Polizeiinspektor Hal Challis in der deutschen Übersetzung vor. Fünf Jahre ist es her, dass der letzte Roman mit ihm bei uns erschien (»Leiser Tod«, 2018). Gut, dass es nun weitergeht. Die auf der Mornington Peninsula südlich von Melbourne angesiedelte Polizeiroman-Reihe ist eine der großen Serien der Kriminalliteratur – wenn nicht die zeitgenössisch beste. Garry Disher hat mit ihr seinen Weltrang begründet. Die Bücher übrigens sind alle in sich abgeschlossen, der neue Fall für Hal Challis eignet sich auch für Neueinsteiger.
Zehn Kriminalromane von Garry Disher sind derzeit alleine im Unionsverlag lieferbar, dazu neun mit dem Berufsverbrecher Wyatt beim Berliner Independent-Verlag Pulp Master von Frank Nowatzki. Einer ist besser als der andere, man kann gar nicht danebengreifen. Mit über 170.00 verkauften Exemplaren beim Unionsverlag ist der Australier inzwischen dort mehr als nur ein Hausautor. Letztes Jahr stemmte der Verlag eine Lesereise für den Autor aus Down Under.
Der erste Roman mit Hal Challis (»Dragon Man«) erschien 1999 in Australien. Thomas Wörtche holte den »Drachenmann« 2001 für seine Metro-Reihe zum Unionsverlag. Seitdem hat Garry Disher beinahe jedes Jahr einen neuen Kriminalroman vorgelegt und dabei immer wieder erfolgreich auch neue Figuren und Konstellationen ausprobiert. Zuletzt waren das »Stunde der Flut« (2022), davor »Kaltes Licht« und die bisher drei übersetzten Romane mit dem ins Hinterland strafversetzten Einzelgänger Hirsch (»Barrier Highway«, »Hope Hill Drive« und »Bitter Wash Road«). Zusammen mit den Wyatt-Büchern bildet das ein stattliches Œuvre, wobei das nur ein Teil seines Werkes ist: Zu seinen rund 50 Titeln gehören auch historische Romane, zwölf Kinder- und sechs Sachbücher und Anthologien. Ich habe es einmal so begründet: »Garry Dishers Kriminalromane sind geradezu unheimlich beständig stets auf Weltklasse-Niveau. Ein solcher Reichtum an immens guten Büchern und Geschichten, prall und lebensecht, ist Königsklasse.«
Nun also wieder Hal Challis. Wieder, wie schon damals zuerst bei uns im »Drachenmann«, begegnen wir dem Inspektor, wie er in einem Eimer stehend duscht, um Wasser zu sparen. Diese Methode ist Ausdruck der Hitzewelle, unter der Australien ächzt. Zwei aus Sydney angereiste Auftragskiller, die einen Mann verschwinden lassen sollen (und das auch tun), werden Opfer ihrer großstädtischen Arroganz. Erst beseitigen sie einen möglichen Zeugen, dann entfacht eine trotz Warnung vor Brandgefahr weggeworfene Zigarette einen Buschbrand, dem sie selbst zum Opfer fallen. Beim Aufräumen stößt die Feuerwehr auf die Überreste einer Drogenküche. Challis beginnt zu ermitteln, immerhin gibt es drei Leichen, doch eine ehrgeizige Kollegin vom Drogendezernat in Melbourne übernimmt den Fall. Es gibt Anzeichen, dass sich das organisierte Verbrechen im Gefolge von immer mehr Crystal Meth auf der Halbinsel breitmacht.
Challis und die Polizistin aus der Stadt kommen sich immer wieder in die Quere, die Spannung zwischen ihnen ist aber auch eine andere, persönlichere. Das macht jedoch nur einen kleinen Teil der Voltstärke dieses Romans aus. Challis, dessen selbstmörderische Frau ihn einst umbringen wollte, ist seit einigen Büchern mit Ellen Destry zusammen. Die ist inzwischen die neue Leiterin der Abteilung für Sexualverbrechen und einem Serieneinbrecher und Vergewaltiger auf der Spur, zudem muss sie ihre Schwester vor einem Heiratsschwindler bewahren. Das Verhältnis von Männern und Frauen wird auf vielen Ebenen thematisiert, ist handlungstreibend. Dann verschwindet ein sechsjähriges Mädchen, es gibt Diebstähle von allerlei landwirtschaftlichem Gerät, Hal Challis muss sich nach einem neuen Auto umsehen und Weihnachten steht vor der Tür, das Thema Geschenke wird unvermeidlich.
Viele kleine Alltagsprobleme zwischen all den großen Fällen, wie immer bei Disher alles meisterhaft entwickelt und verknüpft – und am Ende erstaunlich effektiv und mit Bodenhaftung gelöst. Nach einem Disher-Buch, so erlebte ich es bisher jedes Mal, leide ich Tage unter einem Trennungsschmerz, ertappe mich bei Entzugserscheinungen. Garry Dishers Charaktere erscheinen real, wie wirkliche Menschen, die eine Existenz auch außerhalb der Romane haben. Man würde sie gerne treffen. Sie sind aus Fleisch und Blut, sind nuancierte Charaktere, sie leiden und lieben, hoffen und bangen, machen Fehler. Ich habe dazu mit Garry Disher per Email ein Interview geführt.
Frage: Deine Challis-Romane spielen auf der Mornington Peninsula, wo du auch selber wohnst. Was macht diese Halbinsel so besonders?
Garry Disher: Ich mag den Abwechslungsreichtum der Landschaft und all die kleinen Orte. Wir haben ein Strandleben von ruhig und beschaulich bis fast mondän, mit Strandzugängen für jedermann. Wir haben Farmen im Hinterland und Weinberge teils bis fast ans Meer. Im Süden, an der Halbinselspitze, haben die reichsten Familien Australiens ihre Villen, die Peninsula ist ein Spielplatz der Reichen. Aber es gibt auch viele Viertel voll sozialer Probleme, es gibt Armut und soziale Gegensätze – all das ist ein wirklich reichhaltiges Setting für einen Autor von Kriminalromanen. Ich liebe es, die Lokalnachrichten zu lesen. All die kleinen Sachen, wenn Jugendliche nachts Mülltonnen ausleeren, die Kleindiebstähle, was immer. Das fließt in meine Romane. Ich habe immer viel Material.
Frage: In deinen Büchern gibt es immer zeitgemäße Probleme und Konflikte. Nostalgie ist nicht dein Ding, oder?
Garry Disher: In den rund 25 Jahren, die ich jetzt hier lebe, hat sich viel verändert. Bis in die 1930er Jahre war die Halbinsel nur per Schiff erreichbar, es gab keine Straße aus Melbourne. Die alten Küstenorte haben sich teils enorm vergrößert, neue Siedlungen breiten sich auf Farmland aus. Aber all die sozialen Dienste und Einrichtungen, Schulen, Krankenhäuser und Sozialhilfestationen halten damit nicht Schritt. Das verursacht soziale Spannungen und macht der Polizei Kopfschmerzen. In meinen Kriminalromanen gehe ich dem nach. Für mich handeln sie ebenso viel von einem Ort und einer Lebensweise wie es in ihnen um Verbrechen und deren Aufklärung geht.
Frage: Der Schauplatz als Charakter, ist das eine zufällige Sache oder hat es Methode?
Garry Disher: Wo eine Geschichte spielt, das sollte in allen literarischen Formen von Wichtigkeit sein, nicht nur im Kriminalroman. Das Setting prägt die Charaktere und sie gestalten das Setting, das kann man nicht voneinander trennen. Meine Charaktere sind keine beliebigen Gestalten. Wenn ich eine Szene schreibe, kann ich sehen, wo sie spielt, und wie meine Protagonisten mit diesem Ort interagieren. Ich bin aufmerksam für all die sensorischen Informationen, und ich würde behaupten, dass ich keine Szene oder keinen Charakter zu schreiben vermag, ehe ich das nicht hören, sehen, riechen, schmecken, berühren kann.
Frage: Das »Funkloch« im Titel (»Signal Loss« im Original), das meint doch sicher nicht nur die manchmal wacklige Mobilfunk-Verbindung bei euch auf dem Land, »da unten auf der Peninsula«, wie sie in Melbourne sagen?
Garry Disher: Die Verbindung ist wirklich manchmal lausig. Aber ich meine damit auch die mangelnde Anbindung unserer Behörden und unserer Gesellschaft an bestimmte Entwicklungen. Dass man nicht sehen kann und will, wie sich zum Beispiel Rauschgiftsucht und -kriminalität auch auf dem Land ausbreiten, wie prekäre Jobs und Spekulation den sozialen Zerfall beschleunigen, wie viele unserer Institutionen nicht in der Lage oder willens sind, auf die Realität zu reagieren. Challis ist ein scharfer Beobachter, er sieht die Missstände, er tut mit seinen Leuten, was er kann und was möglich ist.
Frage: Wie hat das eigentlich angefangen mit Hal Challis? Wie hat sich das entwickelt?
Garry Disher: Ich hatte sechs Romane mit dem Berufsverbrecher Wyatt geschrieben, ein Buch pro Jahr, und es fing an, sich nach Routine anzufühlen. Da brauchte und wollte ich einen Wechsel. Ich las damals die Inspector-Resnick-Romane von John Harvey, die in Nottingham angesiedelt sind. Ähnlich wollte ich auch an meine Serie herangehen: eine Besetzung wie ein Ensemble, uniformierte Polizisten und Detektive in Zivil, Schwerverbrechen und kleine Vergehen, Arbeitsplatzgeschichten und private, eine Polizeistation in vollem Betrieb. Natürlich waren da auch im Hinterkopf Ed McBain und seine Romane vom 87. Polizeirevier. Mir schwebte als Setting ein Stadtteil von Melbourne vor, obwohl ich gerade in einen kleinen Ort auf der Halbinsel gezogen war. Dort stand ich eines Tages in einem kleinen Laden und hörte zufällig drei oder vier Frauen zu, die sich gerade unterhielten. Sie sahen sich gezwungen, ihre Familienroutinen zu ändern und neu zu organisieren, es ging darum, wie ihre Töchter zum Sport oder zu ihren Ballettstunden kommen sollten. Sollte man sie weiter mit dem Bus fahren, mit dem Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen lassen – oder sie lieber überall selbst hinbringen? Der Grund der ganzen Aufregung war ein Mann, der drei junge Frauen vergewaltigt und ermordet hatte und noch nicht gefasst worden war. Was ich hier erlebte, war ein kleiner Ort in Angst. Das bestärkte mich, meine Polizeiromane lieber auf der Peninsula anzusiedeln als einfach in einer Großstadt. Ich habe es nie bereut.
Frage: Wie ist dein Verhältnis zu Hal Challis?
Garry Disher (mit Understatement): Zu Challis muss ich ehrlich sagen, ohne ihm nahezutreten, dass er mich nie so interessiert hat, wie die weiblichen Figuren oder auch die Bösewichte. Er ist dezent, geduldig, klug, aber auch ein wenig farblos. Er macht seine Arbeit gut, aber er lässt auch anderen ihren Raum. Seine Kolleginnen Ellen Destry und Pam Murphy haben sich deshalb, je mehr die Reihe sich weitergeschrieben hat, mehr Platz erstritten und sie haben sich entwickelt. Ich habe Polizisten und Polizistinnen in meiner näheren Verwandtschaft, mir geht es um ein realistisches Bild der Polizeikultur. Die Gesellschaft erwartet, dass Polizisten sauber und über jeden Vorwurf erhaben bleiben. Aber Challis ist klar, dass auch sie Fehler machen wie wir alle, dass sie Druck ausgesetzt sind und Versuchungen. Er verzeiht vielleicht nicht, aber er versteht.
Frage: Ich muss es fragen: Werden wir Hal Challis wiedersehen?
Garry Disher: »Funkloch« wird vermutlich nicht der letzte Roman der Reihe sein. Ich habe Ideen für weitere Bücher, Leser fragen mich oft danach. Das war auch bei meiner Lesereise durch Deutschland im letzten Herbst so. Die eine Geschichte, die ich mit im Kopf habe, wird ihn sehr in den Mittelpunkt stellen – ich weiß nur noch nicht, wenn es schreiben werde. Denn zurzeit konzentriere ich mich auf Hirsch, und dazwischen wird es »stand-alone«-Romane geben.
Frage: Sind Kriminalromane die Literatur unserer Zeit?
Garry Disher: Das glaube ich in der Tat. Kriminalromane packen aktuelle Themen an wie häusliche Gewalt, Rassismus, Ungerechtigkeit, Schwulenfeindlichkeit, sie erforschen auch, was Korruption und Verbrechen in unserer Gesellschaft anrichten – die so genannte höhere Literatur lässt uns in dieser Hinsicht eher im Stich –, und sie erzählen gute Geschichten. Kriminalromane mögen eskapistisch sein, manche von ihnen sind Schund, aber die guten fordern uns intellektuell ebenso sehr wie sie uns unterhalten. Sie sind Literatur im besten Sinn.
Alf Mayer / Foto: © Darren James
Die Hal Challis Romane in zeitlicher Folge (wobei sie alle gut einzeln gelesen werden können):
- The Dragonman, 1999 – Drachenmann, deutsch von Peter Friedrich, Unionsverlag 2001
- Kittyhawk Down, 2003 – Flugrausch, dt. von Peter Torberg, Unionsverlag 2005
- Snapshot, 2005 – Schnappschuss, dt. von Peter Torberg, Unionsverlag 2006
- Chain of Evidence, 2007 – Beweiskette, dt. von Peter Torberg, Unionsverlag 2009
- Blood Moon, 2009 – Rostmond, dt. von Peter Torberg, Unionsverlag 2010
- Whispering Death, 2013 – Leiser Tod, dt. von Peter Torberg, Unionsverlag 2018
- Signal Loss, 2016 – Funkloch, dt. von Peter Torberg, Unionsverlag 2023