Nach einer Doktorarbeit über John Cowper Powys, Kenner schnalzen hier mit der Zunge, hat Ahrens mit Gedichten angefangen. »Lauf Jäger lauf« war, 2002, sein erster Roman. Es folgten Übersetzungen, vor allem aus dem Amerikanischen, u.a. von Saul Bellow, Colson Whitehead, Richard Powers und Jonathan Safran Foer. Er hat Preise bekommen, darunter den »Nicolas-Born-Preis« und den Bremer Literaturpreis. Er hat es mit »Mitgift« 2021 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Und er hat jetzt, man darf sagen: endlich, einen neuen Roman vorgelegt. Und dafür ausdrücklich seinem Hund gedankt.
Hardy Espen, fast sechzig und normalerweise »die Vernunft in Person«, hat plötzlich eine »irrwitzige Anwandlung«. Er watet im November in der Normandie, völlig bekleidet, nur Parka und Stiefel hatte er ausgezogen, ins Wasser des Ärmelkanals. Eine hohe Welle, die ihn fast umhaut, »brachte ihn zur Besinnung.« Als er zurückwatet, verfängt sich eine dünne Kette, an der ein »ovales, verdrecktes Metallplättchen« hängt, an seinem Zeh. Es ist die Erkennungsmarke eines deutschen Soldaten, der dort, an Utah Beach im Zweiten Weltkrieg offenbar starb. Harry, aufgewachsen in Kiel, wo auch noch Mutter und Schwester leben, wohnt seit sieben Jahren in einem kleinen Ort in der Normandie. Er hatte eine Ehe hinter sich und mit Tochter Lou, die bei der Scheidung siebzehn war, keinen Kontakt mehr. Hier, am Atlantik, fühlt er sich heimisch, hier ist er mit etlichen Dorfbewohnern befreundet und hier hat seine Lebensgefährtin Ainé einen Blumenladen. Hardy ist Zeichner und bebildert eine sehr erfolgreiche Comic-Serie, inzwischen gibt es den zwölften Band. Doch er möchte aussteigen. Seine Leidenschaft sind inzwischen Sachbücher über den zweiten Weltkrieg und die Besetzung der französischen Nordküste durch die Deutschen. Er plant eine Graphic Novel, von ihm gezeichnet und geschrieben, die sich mit den Grausamkeiten der Deutschen speziell in dieser Gegend beschäftigt. Im April 2021 kommt plötzlich Dynamik in sein über Jahre recht beschauliches Leben. Er erhält eine Todesanzeige, verfasst von Freund*innen und Anhänger*innen einer Selma Nissen-Wedekamp, die, 71-jährig, in Frankfurt gestorben ist. Hardy hatte diesen Namen noch nie gehört.
Trotzdem, das bleibt ein bisschen rätselhaft, reist er zur Beerdigung und erfährt schließlich vom Nachlassverwalter, dass die Tote ihm, neben ihrer Autobiographie, einen elfjährigen Retriever namens Brahma hinterlassen hat. Er macht sich nun auf die Suche, um zu erfahren, wer hinter diesem Namen steht. Er fährt nach Kiel, wo er aufgewachsen ist und seine Mutter im Altersheim lebt. Das Rätsel kann auch sie nicht lösen, aber er spürt nach dem Besuch bei ihr und dem Treffen mit seiner Schwester, einen »ambivalenten Schmerz«. Einerseits hängt er noch an ihnen, andrerseits wird ihm klar, dass er sich, als er wegfährt, mit jedem Meter, den er zurücklegt, »von Mutter und Schwester, Kindheit und Jugend« entfernte, immer »weiter in die Zukunft«.
Hier wird die Erzählung zur Bilanz – eines Lebens. Hardy muss sich seiner Vergangenheit stellen. Durch Nachforschungen und Zufälle, wird ihm allmählich klar, dass diese verstorbene Frau seine frühere Französischlehrerin Frau Knudsen gewesen ist. Sie wurde wegen ihrer Strenge gefürchtet, aber von den pubertierenden Jungens angehimmelt. Dass sie ausgerechnet mit ihm, dem schüchternen, verklemmten Jungen eine Beziehung begann, hatte er gut verdrängt und vielleicht wirklich vergessen. Dass ausgerechnet er der Anlass war, dass Frau Knudsen, als die Geschichte aufflog und sie die Schule verlassen musste, eine »Läuterung« durchmachte und dadurch für eine ganze esoterische Gemeinde zum »Vorbild« und zu einer »Lichtgestalt« wurde, liest er staunend in ihren Tagebüchern. »Du Hardy, hast mir geholfen, mein wahres Ich zu erkennen. Was uns widerfuhr, hat mir den Weg gewiesen, ohne dich wäre ich nicht diejenige, die ich bin.«
Irgendwann meinte William Faulkner einmal, dass die Vergangenheit nicht tot, ja nicht einmal vergangen sei. Die französische Atlantikküste liefert dafür täglich den Beweis. Hardy fischt, zufällig, aus dem Meer die Erkennungsmarke eines deutschen Soldaten. Das lässt ihn nicht in Ruhe. Mithilfe seines Polizistenfreundes Vincent, finden sie die Enkelin des am Utah Beach ertrunkenen Mannes. Eine zweite aberwitzige Geschichte beginnt. Gisela Krause, Mitte fünfzig, lebt in Herne und macht sich bald auf den Weg, um dem Finder zu danken. Sie kündigt sich schon mal vielsagend an als »durch viel Sport durchtrainiert.« Sie erscheint in einem himmelblauen Sportwagen und der höfliche Hardy kann sich kaum ihrer dummdreisten Avancen erwehren. Ihre Einstellung gibt sie sofort kund: »Mein Großvater hat schlicht für sein Vaterland gekämpft und sein Leben dafür gegeben.« Als Gisela immer aufdringlicher wird, muss der Polizist und Freund wieder helfen. Er versucht bei einem selbstgekochten Essen Gisela davon zu überzeugen, dass Hardy bereits ein für alle Mal vergeben ist. Da beide nicht die gleiche Sprache sprechen, reden sie, höchst witzig, immer aneinander vorbei, und als Vincent ihr seine antike Säbel-Sammlung zeigen will, läuft der Abend vollends aus dem Ruder. Der Polizist bekommt Hilfe von seinen Kollegen und Gisela macht sich aus dem Staub.
Ein Großteil der Protagonisten dieses Romans hat bereits die Hälfte ihres Lebens hinter sich. Sie werden, ob durch Zufall oder Schicksalsschläge, dazu bewegt, Bilanz zu ziehen. Sie sehen die Fehler, die sie in der Vergangenheit gemacht haben, die Schwierigkeiten, die sie bewältigt haben, und das Leiden, das sie erfahren haben. Und, vielleicht noch wichtiger, sie sehen auch die Möglichkeiten, die sie noch nutzen können. Bilanz ziehen heißt eben auch, neue Chancen zu nutzen. Als Hardy, Schuhe ausgezogen und Parka abgelegt, in den kalten Atlantik watete, spürte er offenbar, dass manchmal auch ein Fußballtrainer verbal ins Schwarze trifft: »Lebbe geht weiter«.
Dragoslav Stepanovics Einsicht wird von Henning Ahrens auf eine eher stille, und doch anziehende Art, und das überzeugend, umgesetzt. Er erzählt, schlicht gesagt, eine gute Geschichte.